Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
Vom Netzwerk:
Familie gehörten. Nun gehörte auch sie dazu.
    Â»Wie du meinst …«, willigte sie schließlich mit kalter Höflichkeit ein. Dann verließ sie, ohne länger abzuwarten und vollkommen unbekleidet, den Raum. Zum ersten Mal folgte ihr Gavrils Blick nicht. Und sie spürte es.

19
    London, Madame Iv Lilys Büro
Sonntag, 26. Dezember, 12.54 Uhr
    Â»Was soll das heißen, es ist nicht da? Ich habe es deutlich gesagt: Nur das hat mich interessiert.«
    Victoria saß auf ihrem Platz und wartete darauf, dass Madame das Telefonat im Nebenzimmer beendete. Seit sie das Büro betreten hatte, waren mindestens fünf Minuten vergangen, und das war der einzige Satz, den sie verstanden hatte. Ihre Lehrerin hatte mit einem Mal ihre gewohnt sichere Haltung verloren. Nach dem Tod von Catherine Derzhavin war Iv nicht mehr dieselbe.
    Aus dem Raum, der an das Loft grenzte und in den sich Madame für ihre wichtigsten Telefonate zurückzog, drang stetes, leises Getrappel. Offenbar lief sie nervös auf dem Parkettboden hin und her.
    Dann ging die Tür auf, und Madame kam heraus. Sie wirkte aufgebracht. »Die anderen Bühnenprospekte kannst du behalten! Sie interessieren mich nicht. Ich habe jetzt zu tun. Ruf mich nur an, wenn du gute Nachrichten hast.«
    Victoria starrte auf das prosodische Übungsheft und wagte es nicht aufzusehen, aus Angst, dem wütenden Blick der Lehrerin zu begegnen. Nun musste sie schon an einem Feiertag hier sein − was in der Theaterwelt allerdings öfters vorkam −, und dann war Madame obendrein auch noch verärgert.
    Sie hörte, wie der Hörer mit einem dumpfen Knall aufgelegt wurde, aber sie schaute noch immer nicht auf.
    Â»Du musst entschuldigen, Victoria. Wir werden eine Pause einlegen«, sagte Madame barsch.
    Endlich hob Victoria den Blick, während Iv sich setzte. Man sah sie fast nie aus der Fassung geraten, es sei denn, ihre Schauspielerinnen benahmen sich wie verwöhnte kleine Mädchen, oder ein Vertrag wurde nicht eingehalten.
    Â»Was ist passiert?«, fragte Victoria schüchtern.
    Madame fuhr sich mit der Hand durch das Haar und dachte nach. »Ich möchte nicht darüber sprechen.«
    Â»Es tut mir leid … soll ich lieber morgen wiederkommen?«
    Â»Nein«, erwiderte Iv. »Ich muss fort. Ich werde dich wissen lassen, wann der Unterricht das nächste Mal stattfindet.«
    Dann verabschiedete sie sich mit einer eiligen Handbewegung von ihr.
    Victoria schlug ihr Heft zu und eilte zum Ausgang. Sie war bereits an der Tür, als Madame sie erneut innehalten ließ.
    Â»Die Tatsache, dass du hier bist, gibt dir nicht das Recht herumzuschnüffeln.«
    Â»Aber Madame … ich habe die ganze Zeit auf dem Stuhl gesessen.«
    Â»Du weißt schon, was ich meine. Vergiss alles, was du heute gehört hast.«
    Â»Ich habe gar nichts gehört …«, versuchte Victoria sich zu verteidigen.
    Â»Das ist auch besser so.«
    Â»Gewiss, Madame.« Victoria öffnete die Tür und trat, ohne länger zu zögern, hinaus.
    Ratloser denn je lief sie die Treppen hinab. In ihrem Kopf drängten sich die Fragen. Was sollte sie vergessen? Madame hatte doch bloß von Bühnenprospekten gesprochen. Was war schon dabei?

20
    Moskau, Villa Derzhavin
Sonntag, 26. Dezember, 16.01 Uhr
    Kaum hatte Nadja einen Fuß auf die Landebahn gesetzt, spürte sie auch schon den Impuls, sich umzudrehen und wieder in den Jet zu steigen. Sie war seit über einem Jahr nicht mehr in Moskau gewesen, und als sie vor sich die Schar schwarz gekleideter Männer sah, die alle demselben Mafia-Klischee entsprachen, kam ihr sofort wieder zu Bewusstsein, in welcher Welt ihr Vater lebte.
    Kirill war dagegen ganz der Alte: Er hatte sich während der gesamten Reise zurückgezogen, war mehr im Cockpit als im Passagierraum gewesen und hatte sich ihr gegenüber genau so verhalten, wie man sich gegenüber der Tochter des Chefs zu verhalten hat: schweigend und zuvorkommend.
    Nadja musste an ihre erste Begegnung denken. Nachdem er lange Zeit zuerst in der Roten Armee und später im KGB tätig gewesen war, hatte er sich, kurz nach seiner Ankunft in Moskau, Zutritt in ihr Haus verschafft und dabei alle Sicherheitsmaßnahmen umgangen. Es war Nacht, und sie hatte nicht schlafen können. Sie war leise ein Stockwerk tiefer in das dort gelegene Fernsehzimmer gegangen und hatte sich auf das Sofa gesetzt. Sie konnte sich noch genau

Weitere Kostenlose Bücher