Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
Vom Netzwerk:
daran erinnern, wie sie plötzlich eines der Fenster der Villa aufspringen hörte. Zuerst hatte sie gedacht, es sei jemand vom Wachpersonal, doch dann war es ihr so vorgekommen, als seien alle verschwunden, und sie hatte es mit der Angst zu tun bekommen.
    Als sie aufstehen und in ihr Zimmer hatte zurückgehen wollen, hatte ihr plötzlich jemand eine Pistole an den Kopf gehalten. Der Mann, der auf sie zielte, hatte einen undurchdringlichen, beinahe traurigen Gesichtsausdruck gehabt. Nadja war reglos sitzen geblieben. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund hatte sie keine Furcht verspürt. Der Unbekannte hatte die Waffe sinken lassen und ihr die Hand gereicht. Sie hatte sie wie in Trance ergriffen. Dieser Händedruck hatte etwas Freundliches, beinahe Beruhigendes gehabt. Gemeinsam waren sie die breite Treppe zum Schlafzimmer der Eltern hinaufgestiegen. Aus dem Augenwinkel hatte Nadja die Füße eines Wachpostens seitlich hinter einer Tür herausragen sehen. Ein Schauer hatte sie überlaufen, aber sie war stumm geblieben. Als der Fremde an die Schlafzimmertür klopfte, hatte er sie noch immer an der Hand gehalten. Ihr Vater hatte geöffnet. Seinen Blick würde sie nie vergessen: eine Mischung aus Ungläubigkeit und Wut. Er hatte sich auf sie gestürzt und sie dem Griff des Mannes entrissen. Der hatte sich nicht zur Wehr gesetzt, sie nicht festgehalten.
    Â»Wer bist du?«, hatte der Vater gefragt.
    Kirill hatte die Pistole am Lauf genommen und sie ihm hingehalten. »Du brauchst bessere Männer, um dich zu schützen.«
    So hatte es begonnen: ein Arbeitsangebot mit dem Beigeschmack einer Drohung. Gavril hatte es angenommen. Die Vorstellung, einen Waisen bei sich aufzunehmen, der, wie Kirill erklärte, nicht etwa seine Familie, sondern vielmehr »seine Mutter, die Rote Armee, und seinen Vater, den KGB, « verloren hatte, gefiel ihm.
    Seit jenem Tag hatte der Sibirier die Familie Derzhavin nicht mehr verlassen, und im Lauf der Jahre hatte ihn Gavril immer mehr ins Herz geschlossen. Kirill war der Einzige, der alle Sicherheitsvorkehrungen und -codes der in der ganzen Welt verstreuten Besitztümer der Familie kannte, und er wusste vermutlich mehr Dinge über den Vater als Nadja selbst. In all der Zeit hatte Kirill niemals seine Einstellung zu dem Oligarchen verändert, als dessen treuer rechter Arm er sich verstand. Aber Gavril hatte sich verändert. Mittlerweile behandelte er ihn wie den eigenen Sohn, den er nie gehabt hatte. Das lag vermutlich daran, dass seine einzige Tochter nie seinen Vorstellungen gerecht geworden war.
    Seit Nadja erkannt hatte, welcher Art von Geschäften der Vater in Wahrheit nachging, hatte sie angefangen, alles, was er und seine Welt verkörperten, zu verachten. Denn sie kam tagtäglich mit dem in Berührung, was die Gavrils dieser Welt zu verantworten hatten: dubiose Geschäfte und skrupellose politische Machenschaften, die zu unschuldigem Blutvergießen, Leid und Armut führten. Das war ihr Vater, derselbe, der in diesem Augenblick in einem tadellosen grauen Zweireiher reglos oberhalb der kurzen Freitreppe unter dem Portikus der Villa stand, gefolgt von einer Dienstbotenschar in Reih und Glied, die sich − unter der Führung des stattlichen Butlers Borimir − einen Schritt hinter ihrem Herrn versammelt hatte, um die rebellische Prinzessin Nadja Gavrilovna Derzhavin in Empfang zu nehmen.
    Â»Jedes Mal wenn ich herkomme, weiß ich, warum ich gegangen bin«, bemerkte Nadja, während sie durch die getönten Scheiben der Limousine auf den prächtigen Park und die Fassade der riesigen Villa mit all dem Personal blickte.
    Â»Viele gäben was drum, sich adoptieren zu lassen«, erwiderte Kirill.
    Â»Sollen sie doch«, gab Nadja kurzangebunden zurück.
    Sie stiegen aus dem Wagen. Als Gavril seine Tochter erspähte, wirkte er so erregt wie sonst nie. Sein Gesicht hellte sich auf. Er eilte die wenigen Stufen hinab und lief ihr entgegen, dann breitete er die Arme aus und drückte sie innig an sich.
    Â»Hallo Papa«, murmelte sie.
    Die Umarmung dauerte länger als gedacht. Es war nicht seine Art, seine Gefühle so offen zu zeigen, Catherines Tod musste ihn härter getroffen haben, als Nadja geahnt hatte. Sie spürte die Tränen aufsteigen, doch dann sagte sie sich: Ich bin eine Derzhavin. Und sie riss sich zusammen.
    Â»Ich bin froh, dass du da bist«, empfing Gavril sie mit bewegter Stimme

Weitere Kostenlose Bücher