Die Schwesternschaft
Bildschirmbereich aus. Das Gesicht der Person lag vollkommen im Schatten, als hätte sie genau gewusst, dass die Ãberwachungskamera sie zwar filmen würde, die Gesichtszüge dort jedoch nicht einfangen konnte. Ein Detail war allerdings eindeutig: dieselben kleinen Springerstiefel wie bei der Gruppe der bewaffneten Eindringlinge.
»Wieder diese Frau?«, fragte Nadja.
»Ja. Leider ist das alles, was wir von ihr haben. Etwas wenig in einem Land mit achtzig Millionen Frauen. Kein Bild ihres Gesichts, nicht einmal ein flüchtiges. Offenbar hat sie keiner am Set gesehen. Niemand hat die Anweisung gegeben, diese Kabel zu legen oder sich an der Schalttafel zu schaffen zu machen. Die einzigen Befugten waren die Techniker von den Spezialeffekten, die, wie du weiÃt, viel später gekommen sind.«
»Und sie haben nichts bemerkt? Wie ist das möglich? Und deine Leute? Wo waren sie?«
»Bei deiner Mutter, leider.«
Gavril schaltete den Bildschirm aus. Vater und Tochter sahen sich einen Moment lang an.
»Sag mir die Wahrheit, Papa. Bei was hast du die Finger im Spiel? Das sieht nach Geheimdienstoperationen aus.«
Gavril goss sich ein Glas Wein ein und bot auch seiner Tochter eines an. Nadja nahm dankend an.
»Ich habe dir diese Bilder aus einem einfachen Grund gezeigt: Jemand, der sehr mächtig und sehr fähig ist, will uns Böses. Aber zum ersten Mal in meinem Leben weià ich nicht, wer es ist, und noch schlimmer, ich weià nicht, was er will.«
»Du hast mir nicht auf meine Frage geantwortet â¦Â«
»Nadja«, seufzte er, »ich versichere dir, dass keines meiner Geschäfte irgendetwas mit alldem zu tun haben kann.«
»Wieso bist du dir da so sicher?«, rief sie verärgert. Diese Arroganz war ihr schon immer zuwider gewesen.
»Weil es mein Metier ist. Ich bin kein Heiliger, und ich mache wie gesagt unsaubere Geschäfte mit unsauberen Leuten, aber was ich nicht mache, sind falsche Geschäfte mit den falschen Leuten. Vor zwei Tagen hätte ich nicht mit Sicherheit zu sagen vermocht, ob der Tod deiner Mutter nicht ein Racheakt von irgendjemand war. Aber ich habe in diesen Stunden alles bis ins kleinste Detail überprüft. AuÃerdem gibt es etwas, das diese Ãberlegungen endgültig zunichtemacht.«
»Und was?«
»In meiner Welt, die du so hartnäckig verachtest, gelten zumindest bestimmte Regeln. Keiner bringt deine Frau um. Und falls doch, tut er es, um es dich wissen zu lassen. In diesem Fall hat sich jedoch niemand dazu bekannt.«
Das schien Nadja zu überzeugen, aber es genügte ihr nicht: »Kommen wir zur nächsten Frage: Was haben sie aus dem Bunker gestohlen?«
»Einen Bühnenprospekt«, antwortete Gavril in bedächtigem Ton, als würde er seinen eigenen Worten nicht glauben.
»Einen Bühnenprospekt?«, wiederholte Nadja verblüfft. »Seit wann interessierst du dich für Bühnenbilder?«
»Seit Kurzem. Es ist eine Sammlung, die ich von einem ehemaligen Kunden geerbt habe. Bevor er ins Unglück stürzte, hatte er den Bunker, den du im ersten Film gesehen hast, herrichten lassen, um dort eine beachtliche Sammlung aufzubewahren. Ich hatte vor, sie bald aufzulösen. Ein Geschäft wie jedes andere.«
Nadja wusste nicht, was sie davon halten sollte. »War es das wertvollste Stück?«
»Nein. Zwei Drittel der Sammlung haben einen höheren Marktwert. Diesen Prospekt hatte ich eigentlich schon verkauft. Er war Teil eines Geschäftspaketes mit einem italienischen Antiquitätenhändler. Wenn man ihn unbedingt hätte haben wollen, hätte man sich bloà an ihn wenden und das Doppelte bieten müssen.« Gavril legte eine Pause ein. »Oder man hätte ihn umbringen können. Das wäre jedenfalls sehr viel einfacher gewesen als ein militärischer Ãberfall auf einen rundum bewachten Bunker.«
Nadja überlegte einen Augenblick lang. Ihr Vater hatte recht: Es ergab keinen Sinn. »Hast du ein Bild von diesem Prospekt?«, fragte sie.
Gavril trat an den Schreibtisch, der die halbe Wand hinter ihm einnahm, und zog eine Zeichenmappe aus einer der unteren Schubladen. Nadja trank ihren Wein aus und folgte ihm.
Die Mappe enthielt eine Reihe von Digitaldrucken im DIN-A4 -Format.
»Bitte sehr«, sagte Gavril nur.
Nadja fand nichts Besonderes daran. Der Baum war in Schwarz-Weià gehalten, als habe der Maler keine Zeit gehabt, ihn
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