Die Schwesternschaft
und lockerte die Umarmung. Er meinte es ehrlich, so gut kannte Nadja ihn, und es schien, als wolle er sie nie wieder fortgehen lassen.
Auf ein Zeichen von Borimir eilten zwei Gehilfen zum Wagen, um das Gepäck zu holen.
Erst jetzt trat Kirill, der bis dahin abseits neben dem Auto gewartet hatte, auf Gavril zu und begrüÃte ihn mit einem Kopfnicken. Gavril fasste ihn, zum Zeichen der Anerkennung, am Arm, und Nadja erkannte in dieser Geste eine beinahe so groÃe Nähe wie zwischen Blutsverwandten. »Ich weià auch diesmal nicht, wie ich dir danken soll«, sagte er an den Sibirier gewandt.
Kirill nickte.
»Jetzt geh nur. Ich will ein bisschen mit meiner Tochter allein sein.«
Der Sibirier lief zum Eingang und betrat die Villa. Nadja schaute ihm hinterher, aber er drehte sich nicht mehr um.
Gavril trat dicht an sie heran. »Es tut mir sehr leid um deinen italienischen Kollegen«, sagte er.
»Es tut dir leid?«, fragte sie und blieb auf der untersten Stufe stehen. »Seit wann machst du dir um das Leben anderer Gedanken?«
Der Vater bot ihr den Arm an. »Ich weiÃ, dass ihr euch sehr nahegestanden habt. Ãbrigens habe ich mir schon immer Gedanken um das Leben anderer Personen gemacht. Zum Beispiel um das deiner Mutter oder um deines.«
Das stimmte, und Nadja nahm seinen Arm an. Aber sie wollte die Dinge von Anfang an klarstellen. »Gestern ist ein Freund von mir gestorben, Papa. Vor drei Tagen Mama. Das Einzige, was ich jetzt möchte, ist, ihr die letzte Ehre zu erweisen, mich von ihr zu verabschieden und so schnell wie möglich wieder zu verschwinden.«
Gavril betrachtete sie sorgenvoll. »Das ist nicht die Zukunft, die ich mir für dich erträumt habe.«
»Mag sein«, erwiderte sie prompt. »Hast du eine Vorstellung von dem, was ich tagtäglich erlebe? WeiÃt du, was es heiÃt, die verstümmelte Hand eines Kindes wieder anzunähen? Mit der weinenden Mutter, die dabei zusieht?«
Der Blick des Vaters war trotz der harten Worte unverändert geblieben. Er schien im Gegenteil voller Zärtlichkeit, als sei es das schönste Geschenk der Welt, die Tochter bei sich zu haben. Nadja beschloss, den Ton zu mildern und zu versuchen, die Angelegenheit für sie beide zu erleichtern. »Tut mir leid. Ich bin bloà sehr mitgenommen. Alles, was gerade geschieht, ist ⦠ein Albtraum.«
»Auch für mich.«
Nadja seufzte. Am liebsten hätte sie geantwortet, dass es sein Leben war, das diese Albträume mit sich brachte, aber sie hatte keine Lust, länger zu streiten. »Bitte lass uns reingehen.«
Unter dem Vordach am Ende der Treppe stand noch immer das Dienstpersonal in einer Reihe. Alle hielten die Köpfe gesenkt, aber Nadja war sicher, dass sie jedes Wort mithörten. Die Augen des Vaters waren auf sie gerichtet: Sie wusste, wie sehr er es verabscheute, ihre Probleme in der Ãffentlichkeit zu erörtern. Aber überraschenderweise reagierte er immer noch freundlich. Das beunruhigte sie am allermeisten.
»Willkommen daheim: Wir haben uns viel zu erzählen«, sagte er herzlich.
Nadja sah sich unbewusst nach Lena, der Geliebten des Vaters, um. Dann fiel ihr ein, dass sie sich aus Anstand â oder weil sie den Befehl bekommen hatte? â ein paar Tage lang nicht blicken lassen würde. Dennoch hatte sie das Gefühl, ihre Gegenwart zu spüren, als würde diese Frau ihr nachspionieren.
Sie traten ins Haus, gefolgt von der riesigen Silhouette des wie immer schweigsamen Butlers Borimir: Er kannte die Dynamik der Familie Derzhavin, einschlieÃlich der Geliebten, nur zu gut und hielt deshalb, aus Achtung vor ihrer Privatsphäre, den gebührenden Abstand.
»Wer hat Mama umgebracht?«, fragte Nadja unvermittelt.
Gavril schien die Frage nicht zu überraschen. »Das wüsste ich auch gerne.«
21
Moskau, Villa Derzhavin
Sonntag, 26. Dezember, 19.19 Uhr
»Was haben die mit Mama zu tun?«, fragte Nadja erstaunt, während sie auf dem 28-Zoll-Bildschirm zwei Bewaffnete in ein bunkerähnliches Gebäude eindringen sah.
»Es sind dieselben, die deine Mutter umgebracht haben«, antwortete Gavril trocken und hielt das Bild an. »Was du dort siehst, ist eine Art Tresor, der sich in meinem Besitz, in der Nähe von Sotschi, befindet. Letzte Nacht haben sie drei Wachleute getötet und etwas von mir gestohlen.«
Nadja betrachtete die Szene: zwei vollkommen schwarz gekleidete,
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