Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
Vom Netzwerk:
eine lange, in Pelze und schwere Mäntel gehüllte Menschenmenge über den durch Absperrungen markierten Weg, um der beliebtesten Schauspielerin des neuen Russlands die letzte Ehre zu erweisen. An diesem grauen und frostigen Morgen erschien Gavril jene Prozession schwarzer Kalpaks wie eine giftige Schlange, die sich in sein Leben einschlich. Eine Beisetzung im privaten Kreis wäre ihm lieber gewesen, doch halb Moskau sprach hinter vorgehaltener Hand von Mord, und er wollte diese Gerüchte nicht weiter schüren.
    Er kehrte zurück in den Großen Saal: Der Sarg war in der Mitte aufgebahrt. Die Stuhlreihen hatte man entfernt, um Platz für ein Feld weißer Rosen zu schaffen, die man aus den Gewächshäusern der Côte d’Azur hatte kommen lassen: Catherine hatte weiße Rosen geliebt. Die großformatigen Fotografien an den Wänden, mit Szenen aus den wichtigsten Filmen, in denen sie mitgewirkt hatte, waren zum Zeichen der Trauer mit schwarzen Samtgirlanden verziert.
    Wenig später kam Nadja herein, und nach einer langen Umarmung trat Gavril beiseite, um sie ein letztes Mal mit der Mutter alleine zu lassen.
    Die junge Frau sah mehrere Minuten lang reglos in das Gesicht hinter der Glasscheibe und umklammerte die weiße Rose in ihren Händen. Dann stellte sie sich, wie es das Protokoll vorschrieb, gefasst hinter dem Sarg auf. Sie trug ein schlichtes schwarzes, knöchellanges Kleid. Keine Schminke und keinen Schmuck, nur eine lange Bernsteinkette, die Gavril sofort wiedererkannte: Es war ein Geschenk von Catherine zu ihrem Debütantinnenball. Er selbst hatte ihr damals den ersten langsamen Walzer geschenkt … wie lange das her war.
    Der Dritte, der hereinkam, war Kirill. Für ihn war der Aufbahrungsraum ein logistischer Albtraum. Eine unbekannte Menschenmenge würde in den Sicherheitsbereich von Gavril und seiner Tochter eindringen.
    Obwohl niemand den Metalldetektor und die Sprengstoffspürhunde umgehen konnte, war der Sibirier unruhig. Er trug wie stets seine Kopfhörer, über die er in permanentem Kontakt mit den übrigen Wachleuten blieb, und ließ nun ein letztes Mal den Blick ringsum durch den Großen Saal schweifen, bevor dieser sich füllen würde. Dann sah er zu Gavril, der ihm zunickte.
    Kirill öffnete die große Glastür und ließ rund ein Dutzend schwarz gekleideter Männer mit Kopfhörern hinein.
    Nun gab er dem Saaldiener ein Zeichen, der daraufhin die Absperrkordel vor dem Eingang entfernte: Die lange Reihe setzte sich in Bewegung, und einer nach dem andern schritt, in absolutes Schweigen gehüllt, auf dem roten Läufer voran.
    Alle hielten bei dem Leichnam inne und wirkten aufrichtig betroffen. Manche warfen eine Blume an das Fußende der Bahre, andere drückten einen Kuss auf die Kante des Sarges aus glänzendem Eschenholz. Anschließend zogen sie gefasst, aber schweren Herzens an Catherine vorbei, um den Angehörigen ihr Beileid zu bekunden: ein Wort, ein Händedruck, eine Umarmung der engsten Vertrauten. Am Ende verschwanden sie traurig durch das große Portal des Notausgangs, der zu dieser Gelegenheit freigegeben worden war, um einen geregelten Ablauf zu gewährleisten.
    Kirill wirkte wie eine Statue. Plötzlich bemerkte er etwas, das ihn in Alarmbereitschaft versetzte. Die Geliebte des Chefs, Lena Leskov, war eingetreten, ohne Begleitung. Es war unverkennbar sie, obwohl ihr Gesicht von dem schwarzen Schleier eines eleganten Hütchens verdeckt wurde. Ihr Erscheinen war niemandem entgangen, denn als sie den Saal betrat, konnte man ein deutliches Raunen vernehmen und sehen, wie die Köpfe, wie durch eine Art Domino-Effekt, herumschnellten. Es gab keinen Moskauer, der nicht von ihrem Verhältnis mit Gavril Derzhavin wusste.
    Nachdem Lena der Toten gedacht und den Sarg passiert hatte, hielt sie sich in einiger Entfernung zur Familie Derzhavin und tauschte lediglich ein kurzes Kopfnicken mit Gavril. Kirill verfolgte mit den Augen, wie sie sich aus dem Menschenstrom löste und auf das Ende des Saales zulief. Dabei glaubte er, etwas Merkwürdiges zu beobachten. Lena schien Vladimir, den Wachposten, der für die Sicherheit des Ostflügels zuständig war, gestreift zu haben. Kirill hatte gesehen, dass sie sehr dicht an ihm vorbeigelaufen war. Zu dicht, sagte ihm sein Instinkt. Außerdem war Vladimir einer der beiden Leibwächter Catherines während dieses verdammten Drehs gewesen.
    Kirill

Weitere Kostenlose Bücher