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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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gesehen zu haben, aber er kam nicht darauf, wo und wann, und befürchtete deshalb, einen Fauxpas zu begehen. Der Umschlag war ein guter Vorwand, die Augen zu senken und sich endlich diesem allzu intensiven Blick zu entziehen: Er ergriff ihn und untersuchte sorgfältig seinen Inhalt.
    Das Ticket der Aerolíneas Argentinas, das bestätigte, dass diese Frau erst vor wenigen Stunden gelandet war, überraschte ihn, die akkreditierte, mit dem Stempel des russischen Kulturministeriums versehene Zugangsberechtigung zum Theater setzte ihn in Erstaunen, und der brandneue 500-Rubel-Schein, den er sich rasch in die Livreetasche gleiten ließ, überzeugte ihn endgültig.
    Er reichte den Umschlag mit dankbarer Geste zurück, dann warf er einen schnellen Blick auf die beiden Fluchtwege des ringförmigen Flurs, von dem aus man zu den Logen gelangte, und da er niemanden entdecken konnte, setzte er sich in Bewegung: »Folgen Sie mir, Madame.« Auf der Höhe der Neunzehn öffnete er die kleine Tür einen Spaltbreit, verneigte sich leicht und murmelte: »Danke.«
    Florette wartete, bis der Platzanweiser hinter der Biegung des Flurs verschwunden war. Als die Fagotte und Pauken des Allegro Moderato aus dem ersten Akt des Schwanensees zum Crescendo ansetzten, nutzte sie die Gelegenheit und schlüpfte in die Loge. Sie hängte den Nerz an den vergoldeten Mantelhaken, nahm das Opernglas aus der Handtasche und ließ sich auf dem mittleren Sitz, dem einzigen, der noch frei war, nieder.
    Es vergingen einige Augenblicke, bevor Iv, die zu ihrer Linken saß, das Schweigen brach und flüsterte: »Endlich, Florette. Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Hattest du eine gute Reise?«
    Florette beugte sich leicht zu Iv hinüber, deutete einen Wangenkuss an und raunte ihr zu: »Was für Geschichten, meine Liebe, was für Geschichten … Aber jetzt bin ich hier …« Dann wandte sie den Blick nach rechts, zur dritten Person in der Loge, die bis zu diesem Moment mit erhobenem Opernglas reglos und hingerissen das erste Solo Odettes mitverfolgt hatte, die durch den Zauber des Bösewichts Rothbart gefangen war.
    Â»Yana«, begrüßte Florette sie mit leiser Stimme, »wie schön, dich hier in deinem Reich wiederzusehen …«
    Yana Svetliskaja, die achtzigjährige, lebende Legende des russischen Theaters und seit Jahren unverzichtbare Leiterin der renommierten Moskauer Schauspielakademie, legte das kleine Opernglas aus Messing und Leder auf ihre Knie, berührte die Wange der Freundin sanft mit den Lippen und erwiderte herzlich: »Verzeih mir, Florette, ich bin unverbesserlich … aber du weißt, dass ich Tanz und Theater gleichermaßen liebe. Und diese junge Odette ist wirklich entzückend: technisch einwandfrei für ihr Alter … im Gegensatz zu Siegfried, der leblos und ein bisschen schwerfällig wirkt … Obwohl wir eigentlich nicht deshalb hier sind.«
    Â»Allerdings«, nickte Florette. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen. Aber Ivs Anruf war unmissverständlich.«
    Â»Sie hat mir nichts verraten wollen ohne deine Anwesenheit«, murmelte Yana ein wenig verärgert.
    Iv wollte gerade antworten, als die beiden auf die Bühnenmitte gerichteten Scheinwerfer, wo Odette unter dem schmerzlichen Gewicht einer unmöglichen Liebe anmutig niedersank, mit den letzten Klängen des Andante a Soggetto am Ende des ersten Aktes erloschen und der Saal in vollkommene Dunkelheit getaucht wurde. Kaum hatten die Lichter den Zauber gebrochen, erhob sich ein geradezu tosender Beifall für die blutjunge Primaballerina Olga Svetlana Demirova, der ein Pas de deux genügt hatte, um das anspruchsvolle Moskauer Publikum zu verzaubern.
    Auch die drei Frauen fielen in den Applaus ein.
    Â»Nicht zu fassen, dass sie aus der Nachwuchskompanie des Kirow-Balletts stammt«, bemerkte Yana in Anspielung auf die jahrhundertealte Rivalität zwischen Moskau und Sankt Petersburg auf dem Gebiet des klassischen Balletts, das für die meisten Russen eine regelrechte Staatsreligion darstellte. Sie unterhielten sich weiterhin leise auf Französisch, aber eigentlich eher aus Gewohnheit als aus Sicherheitsgründen: Das für Theaterpausen so typische Geschnatter, das aus dem Parkett empordrang, übertönte ihre Stimmen.
    Iv kam sofort zur Sache: »Nun, ich muss euch über ein Ereignis informieren, das uns alle in Gefahr bringt«,

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