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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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überlegte in Ruhe. Auf diese Entfernung konnte man nicht mit Sicherheit erkennen, ob eine Übereinkunft zwischen den beiden bestand, der Saal war riesig und er selbst mindestens sechzig Meter weit entfernt. Es war eine instinktive Wahrnehmung gewesen, die er nicht beschwören konnte. Aber er schauderte bei dem Gedanken, dass es der Instinkt − und nichts anderes − war, der ihm mehr als einmal das Leben gerettet hatte.
    In diesem Augenblick wurde er von Nadjas klarer Stimme abgelenkt. Die junge Frau begrüßte Iv Lily und umarmte sie: »Madame Iv! Danke, dass Sie es aus London bis hierher geschafft haben. Mama hätte es zu schätzen gewusst.«
    Â»Mein liebes Kind, ich bin tief betrübt«, antwortete die alte Dame sanft und erwiderte die Umarmung. »Ich habe es vor zwei Tagen erfahren. Sie war für mich wie eine Tochter … und du bist für mich wie eine Enkelin.«
    Â»Ich hätte es vorgezogen, Sie aus anderem Anlass zu treffen …«, murmelte Nadja.
    Iv drückte sie an sich. »Du musst stark sein …«
    Nadja reagierte mit Stolz: »Ich bin stark. Auch wenn es mich schmerzt, gewisse Dinge zu sehen …« Sie deutete mit dem Blick in die Ecke des Saals, in der Lena Leskov stand und die ganze Szene reglos, die Hände in einem weißen Hermelinmuff versteckt, durch ihren schwarzen Schleier beobachtete.
    Gavril, der das Gespräch zwischen seiner Tochter und der namhaften Mentorin seiner Frau bis dahin ungerührt mitangehört hatte, trat einen Schritt auf die beiden zu und mischte sich entschlossen ein: »Nadja, ich bitte dich.«
    Die junge Frau senkte den Blick.
    Â»Wir sehen uns in der Kirche«, flüsterte Iv ihr zu, reichte Gavril die Hand und verschwand in Richtung Ausgang.
    Kirill schaute ihr nach, er bewunderte ihre majestätische Ausstrahlung und die ihr innewohnende Eleganz. Bei den Treffen zwischen Iv und Catherine, bei denen er hatte dabei sein dürfen, hatte sie ihn immer sehr beeindruckt. Madame war ihm stets wie eine Königin erschienen, die sich jedoch durch jene seltene Noblesse auszeichnete, dank derer andere die Kluft nicht wahrnahmen. Während er diesen Gedanken hatte, sah er sie mit den Händen über das Gesicht und anschließend über das Haar streichen, als wolle sie es ordnen. Das Ganze wirkte auf ihn wie eine spontane, sehr weibliche Geste. Es war reiner Zufall, dass er, als sein Blick durch den Saal zu Lena schweifte, etwas bemerkte, das ihn erstarren ließ: Die Geliebte des Chefs, die Hütchen und Muff auf einem Tisch neben sich abgelegt hatte, führte genau dieselbe Geste aus wie Iv, als würde sie auf ein Zeichen antworten. Kirill schaute sofort wieder zu Madame. Ein Aufleuchten in ihren hellen Augen verriet ihm, dass auch sie zu Lena hinübersah.
    Ein geheimnisvolles Einverständnis zwischen zwei Frauen, die sich, soweit er wusste, nicht einmal kannten.

23
    Moskau, Bolschoi-Theater
Montag, 27. Dezember, 19.33 Uhr
    Dimitri Chlebnikov, der diensthabende Platzanweiser im Ostflügel des zweiten Ranges des Bolschoi-Theaters, präsentierte in kerzengerader Haltung sein allerschönstes Touristen-Französisch. Er ließ nichts unversucht, um die zu spät Gekommene zu überzeugen: »Sie kennen die Regeln, Madame, der erste Akt hat bereits begonnen, und ich kann die Logen nicht öffnen. Es würde Lärm verursachen, und Licht würde eindringen. Ich bitte Sie, unten im Foyer zu warten. Ich kann Ihnen den Roten Saal empfehlen, wo es eine große Leinwand mit Stereoübertragung gibt.«
    Die Frau vor ihm zog ihren Nerzmantel aus und legte ihn nachlässig über den linken Arm. Wie durch Zauberhand kam eine perfekte Figur in einem grauen, tief ausgeschnittenen Kostüm zum Vorschein. Sie war eine blendend aussehende Fünfzigjährige. Trotz ihres tadellosen Französisch gab es bezüglich ihrer Herkunft keinen Zweifel: Die zart gebräunte Haut, die großen dunklen Augen und das lange rabenschwarze, zu einem lockeren Knoten gebundene Haar zeugten von ihren südländischen Wurzeln.
    Florette Binta Breeze, die in internationalen Künstlerkreisen als »la Señora« bekannte Kreolin aus Santo Domingo, war eigentlich in jeder Hinsicht Argentinierin, seit ihr Vater − der tausend Ideen im Kopf, aber keinen Cent in der Tasche hatte − sie noch als Heranwachsende den weißen Karibikstränden entrissen und nach Buenos Aires mitgenommen hatte,

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