Die Schwesternschaft
Der eigenwilligste Künstler â ein taubstummer Ukrainer â ging sogar so weit, wie ein Stylit auf einer Säule sitzend zu arbeiten. Seine winzigen Insektenskulpturen brachten bis zu einer Million Rubel.
»Wenn Sie erlauben, Madame Leskov, würde ich Ihnen als Erstes meine neue lebende Skulptur mit dem Titel Der Klöppel schlägt die Glocke in fünf Minuten zeigen.«
Lena sah auf die Uhr und erwiderte: »Du hast fünfundvierzig Sekunden.«
Während des kurzen Gesprächs hatte sich eine kleine Gruppe ängstlich bemüht wirkender Künstler um sie geschart.
»Ich bin heute nicht wegen euch hier, meine Lieben«, war Lena genötigt zu erklären. »Ich habe ein Treffen mit zwei Investoren.«
»Husch, husch«, half Lev nach und schob die Konkurrenz beiseite. In der Schar erhob sich enttäuschtes Gemurmel, aber bald kehrten alle an ihre Plätze zurück.
Der Bildhauer führte Lena zu seinem Atelier: ein Ring aus bemalten Styropor-Dolmen, die der Anordnung von Stonehenge entsprachen. Im Inneren sah man nichts weiter als einen Paravent aus Bambus und Reispapier, hinter dem sich etwas verbarg.
»Vorab sei bemerkt, dass es sich um ein bewegtes Objekt handelt«, erklärte der junge Mann.
»Siebenundzwanzig Sekunden«, erinnerte ihn Lena.
Der Bildhauer beeilte sich, den Paravent beiseitezuschieben, und sie betrachtete das Werk: ein bärtiger Mann um die fünfzig, mit einem Overall aus kleinen Bronzeglöckchen bekleidet, der den Genitalbereich frei lieÃ.
»Spring, du Depp!«, befahl Lev ihm. Dann erklärte er, an Lena gewandt, schüchtern: »Es ist eine Installation.«
Der bärtige Mann begann herumzuhüpfen: Die Glöckchen bimmelten in der Luft, während die Genitalien auf und ab tanzten.
»Sehr gute Arbeit«, sagte Lena kurz angebunden und verschwand.
Sie erreichte das Ende des Leerraumes und wandte sich in dem riesigen Saal noch einmal um: In zehn Metern Entfernung eilten, auf die Sekunde genau, ihre Gäste auf sie zu. Ein Mann und eine Frau. In ihren makellosen Haute-Couture-Anzügen sahen sie nicht gerade wie Künstler aus. Die Frau hielt einen kleinen Aluminiumkoffer in der Hand. Wortlos betrat Lena den Flur, der in ihren persönlichen, für die Verwaltung bestimmten Bereich führte. Die beiden folgten ihr.
Vor einer Tür holte sie eine Magnetkarte aus der Handtasche, zog sie durch den mit Hochglanz-Zedernholz verkleideten Schlitz und wartete auf das Klickgeräusch des aufspringenden Türschlosses.
Im Gegensatz zum Leerraum war Lenas Büro sehr nüchtern eingerichtet. Im Hintergrund ein Schreibtisch mit Kristallglasplatte, ein bequemer weiÃer Arbeitssessel, zwei Metallstühle für die Gäste und ein einziges Zubehörteil: ein schwarzer Flachbildschirm. An der linken Wand stand ein Stahlschrank mit Glastüren, der eine Katalogsammlung zur zeitgenössischen Kunst barg. Die rechte Wand war dagegen vollständig von einer gigantischen Unterwasserwelt verdeckt: eine perfekt wiedergegebene Tropenkulisse mit winzigen bunten Fischen und rotblau schimmernden Korallen. Die Farbenvielfalt dieses Ausschnitts aus einem künstlichen Riff wurde in einem groÃen abstrakten Gemälde, das an der hinteren Wand hing, gekonnt wiederaufgenommen.
Lena trat ein und setzte sich ohne groÃe Umstände auf den Sessel, während die beiden Gäste auf den Stühlen Platz nahmen.
»Das Material?«, verlangte sie.
Die Frau legte den Koffer auf den Schreibtisch, öffnete ihn und reichte Lena einen Apparat, der an ein Militärfernglas erinnerte.
Sie setzte ihn an die Augen, betätigte den Mikroschalter für die Hintergrundbeleuchtung und begann mit der Betrachtung, wobei sie die Cursor an beiden Seiten des Sichtfensters hin und her bewegte. »Perfekt«, rief sie kurz darauf zufrieden. Dann sah sie ihre Gäste an. »Das Bild hat eine exzellente Auflösung. Gibt es weitere digitale Kopien?«
Die Frau reichte ihr einen USB -Stick. »Das ist die einzige. Arvo hat das gesamte elektronische Archiv in Sotschi zerstört.«
Lena nahm den Stick an sich. »Und der Originalprospekt?«
»Ist in Sicherheit, wie abgesprochen«, antwortete die Frau.
»Habt ihr irgendetwas zurückgelassen?«
Der Mann antwortete mit einem unangenehmen Lächeln, das einen Augenblick lang sein perfektes Gebiss aufschimmern lieÃ: »Nur drei Leichen.«
»Ihr habt
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