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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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nachkommen, sobald ich fertig bin.«
    Kirill fand das ziemlich merkwürdig. Er hatte den Eindruck, dass Gavril ihn loswerden wollte, um ungestört zu sein.
    Â»Wir können auf Sie warten«, schlug er vor. »Ein einziger Konvoi wäre mit weniger Risiken verbunden.«
    Â»Nein«, unterbrach ihn Gavril. »Ich will niemanden dabeihaben. Ich muss mit einer Person über deren Zukunft reden.« Er nahm wieder am Schreibtisch Platz. »Du kannst jetzt gehen.«
    Kirill deutete eine Verbeugung an. Kaum hatte er die Tür geöffnet, tönten ihm die Geräusche der Villa Derzhavin entgegen. Außer Nadja gab es nur noch eine Person, mit der Gavril über die Zukunft sprechen konnte: Lena Leskov.

28
    Moskau, »Die Baustelle«
Dienstag, 28. Dezember, 15.56 Uhr
    Die seichte Cembalo- und Flötenmusik, die anzeigte, dass jemand die Fabrik betreten hatte, riss die Dame am Empfang aus ihren Gedanken. Sie hob den Blick von den Unterlagen, die zu einigen Gemälden gehörten, und sah die Person eintreten, der die Existenz dieses Ortes und ihr Arbeitsplatz zu verdanken war: Lena Leskov. Die Rezeptionistin wurde mit einem kühlen Lächeln bedacht. Über die Empfangstheke hinweg sah sie Lena hinter der Feuerschutztür verschwinden, die ein junger Künstler aus Wolgograd aus zusammengepressten Ölfässern angefertigt hatte.
    Die Kreativfabrik Strojploschadka, »Die Baustelle«, befand sich in dem Gebäude einer ehemaligen Wodka-Brennerei, die man in den Neunzigerjahren geschlossen hatte, als im Zuge des Importhandels der Wodka aus dem Ausland billiger wurde als der russische. Nach rund zehn Jahren Leerstand hatte Gavril die riesige Halle für wenige Rubel erworben, sie entkernen lassen und anschließend Lena geschenkt, um auf diese Weise ihr Projekt zur Förderung zeitgenössischer russischer Kunst zu finanzieren. Eine Branche, in die Gavril niemals auch nur einen Rubel investiert hätte, die nun jedoch Gewinne einbrachte, die dank Lenas Geschicklichkeit und Intelligenz alle Erwartungen übertrafen.
    Innerhalb von nur zwei Jahren war die Fabrik zu einem Anziehungspunkt für alle jungen Moskauer Künstler geworden. Hier bekamen sie Raum zur Verfügung gestellt, wo sie frei schaffen, sich mit erfahreneren Kollegen messen, sich gegenseitig helfen oder scharf kritisieren konnten. Das Ganze zum bescheidenen Preis von vierzig Prozent des Verkaufserlöses der eigenen Werke: ein Anteil, den Lena − gemäß dem Motto der Fabrik Nichts bleibt ständig, alles ist im Fluss − festgelegt hatte und der den Konditionen der angesehensten Moskauer Galerien entsprach.
    Die Location, die absolut unorthodoxe Arbeitsweise und vor allem Derzhavins Einfluss auf die Medien hatten sofort Sammler und Investoren angelockt. Hinzu kam Lenas Gespür: Obwohl sie sich nur ein paarmal pro Monat blicken ließ, wählte sie höchstpersönlich aus, welche Künstler weiterhin unterstützt und welche nach Hause geschickt werden sollten. Ihr Urteil war unanfechtbar.
    Als sie nun den Leerraum betrat, wie sich der Saal mit den zwanzig Meter hohen Deckenpfeilern nannte, der fünfundneunzig Prozent des gesamten Gebäudes einnahm und die Künstler beherbergte, war sie daher darauf gefasst, von Bittstellern belagert und von Speichelleckern umgarnt zu werden. Zwar war alles im Fluss, aber dennoch waren die Künstler zu allem bereit, um möglichst lange, am besten ständig, in der Fabrik zu bleiben.
    Â»Madame Leskov, jeder Ihrer Besuche ist eine große Ehre für den Leerraum«, empfing sie der Bildhauer Lev, der aus Peredelkino, jenem zauberhaften Viertel im Südosten Moskaus, stammte, in übertrieben beflissenem Ton. »Darf ich mir erlauben, Sie persönlich zu begleiten … Madame … es gibt einige köstliche Neuerungen.«
    Lena, die ein cremefarbenes Kostüm und ein smaragdgrünes Halstuch trug, antwortete mit einer beiläufig zustimmenden Geste und folgte ihm.
    Das Besondere am Leerraum, das, was ihn so bekannt gemacht hatte, war, dass jeder aufgenommene Künstler einen kleinen Teil des Saals zur Verfügung gestellt bekam, den er vollkommen eigenständig gestalten konnte. Der Leerraum war daher ein Kaleidoskop verschiedenster Ateliers: angefangen bei kahlen, nur mit Staffelei und Leinwand ausgestatteten Bereichen, über Strohhütten, Lehmbauten und kleine Datschen, bis hin zu Höhlen, Pfahlbauten und Baumhäusern.

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