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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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seltsame Zeichen zu erkennen, die nicht gemalt, sondern eher wie ein Relief wirkten und an Buchstaben eines unbekannten Alphabets erinnerten. Aber das Merkwürdigste war, dass sie auf den Fotos, die sie bereits hatte, nicht zu sehen gewesen waren, dessen war sich Nadja sicher.
    Sie lächelte dem alten Archivar zu: »Wunderbar. Könnte ich eine Kopie in Originalgröße bekommen?«
    Â»Das ist nicht nötig. Behalten Sie es nur, mir genügen zwei. Betrachten Sie es als Geschenk eines Freundes, der Ihnen dafür dankbar ist, dass Sie dem da oben … eine Lektion erteilt haben.«
    Offenbar machten Neuigkeiten hier schnell die Runde, dachte Nadja. Sie kam nun auf den entscheidenden Punkt zu sprechen: »Diese Zeichen hier unten … was haben sie zu bedeuten? Ich habe vor einiger Zeit ein Archivfoto des Bühnenprospektes gesehen, auf dem sie nicht vorhanden waren … und dennoch war es mit Sicherheit derselbe Baum!«
    Wasily nahm das Plakat zur Hand und betrachtete es eine knappe Minute lang: »Olga …«, seufzte er schließlich.
    Als würde er in seinem Gedächtnis kramen, erklärte er dann: »Olga Twardowski ist die Erfinderin dieser äußerst ungewöhnlichen Maltechnik … wie für das Theater geschaffen. Mit dieser Technik, bei der, kurz gesagt, verschiedene Farben in unterschiedlicher Verdünnung übereinandergeschichtet werden, konnte sie Dinge malen, die nur im Theater bei beleuchteter Bühne erkennbar waren … Olga war wirklich großartig … ich weiß noch, wie sie einmal mit einem Regisseur stritt, weil …«
    Nadja zuckte zusammen: »Sie haben sie also gekannt?«
    Der Mann seufzte erneut, als sei ihm plötzlich sein Alter wieder zu Bewusstsein gekommen: »Alle kannten ihr Genie, und außerdem war sie eine Frau von unwiderstehlicher Ausstrahlung … Ich war damals vierzehn, also noch nicht alt genug für die Front. Ich arbeitete als Hilfsmechaniker, wo immer man mich gebrauchen konnte. Natürlich auch im Kleinen Tschechow-Theater …«
    Nadja zitterte vor Aufregung. Vielleicht hatte sie des Rätsels Lösung gefunden. Sie versuchte, die Kontrolle über sich zurückzugewinnen, bevor sie die entscheidende Frage stellte: »Haben Sie zufällig gesehen, wie Madame Olga den Prospekt gemalt hat?«
    Â»Mit Sicherheit nicht.«
    Nadjas Enttäuschung war nicht zu übersehen.
    Â»Sie hatte keine Zeit mehr dazu«, fuhr der Archivar fort. »Olga starb in eben diesem Theater, unter den Bomben, die es, zwei Tage vor der Premiere, zerstörten. Aber es war ohnehin nicht sie, die malte. Sie hatte die Ideen, aber sie hasste es, sich die Hände schmutzig zu machen.«
    Â»Und wer tat es dann?«
    Â»Ihre Gehilfen. Alle blutjung, versteht sich. Die älteren mussten das Vaterland verteidigen. Olga wickelte alle um den Finger. Sie übte eine Wirkung wie eine Hexe auf uns aus. Wir wären ihr bis in die Hölle gefolgt …«
    Â»Erinnern Sie sich zufällig daran, wer den Bühnenprospekt gemalt hat?«, unterbrach ihn Nadja und deutete auf das Plakat.
    Der Alte fuchtelte mit einer Hand, als wolle er einen unangenehmen Gedanken vertreiben. »Unmöglich, das zu vergessen. Er war der Einzige, den die Ausstrahlung dieser Frau scheinbar kaltließ. Yuri Glinka machte sich mehr aus Wodka und Raufereien …«
    Â»Yuri Glinka?«
    Â»Ja, ich kannte ihn gut. Wir waren gleich alt.«
    Â»Bitte, erzählen Sie weiter.«
    Â»Yuri war ein Waisenkind aus Kasachstan. Kosaken … Wenn ich mich richtig erinnere, wurde er von einem Ikonenmaler oder dergleichen adoptiert. Der brachte ihm die Technik bei. Er konnte sehr gut malen. Aber er war auch leicht erregbar und jähzornig. Er legte sich mit allen an, das sagte ich bereits. Selbst mit Olga suchte er Streit …«
    Â»Lebt er noch?«
    Wasily seufzte ein weiteres Mal: »Ich habe ihn gleich nach dem Krieg aus den Augen verloren.«
    Â»Mit ein bisschen Glück könnte er noch am Leben sein …«, überlegte Nadja laut. »Wissen Sie zufällig, wo ich nach ihm suchen könnte?«
    Der Mann dachte kurz nach. Dann drehte er sich zu dem Terminal um, das auf dem Schreibtisch stand, und begann auf der Tastatur herumzutippen. »Glauben Sie ja nicht, dass einer wie ich nicht wüsste, wie man mit diesem Teufelsgerät umgehen muss … ich finde es oft nur angenehmer, wenn die andern das für mich

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