Die Schwingen des Todes
Jonathans Handy an. Die Verbindung kam zustande, aber es rauschte stark. »Jon! kannst du mich hören?«
»Wo bist du, verdammt noch mal?«
Trotz des Rauschens hörte Decker, dass sein Bruder schrie. »Ist alles in Ordnung?«
»Ob alles in Ordnung ist? Nichts ist in Ordnung! Ich versuch seit einer halben Stunde, dich zu erreichen! Ich fahr hier durch den Wald und weiß nicht, wohin...«
»Wieso? Was ist los?«
»Akiva! Wo bist du?«, fragte er scharf.
Decker wandte sich an Jen. »Kannst du meinem Bruder den Weg beschreiben?«
»Wir sind in der Nähe der Landstraße zwischen Quinton und Bainberry.«
»Das weiß ich. Wo muss er abbiegen?«
»Ich glaube, die Straße hat keinen Namen.«
»Gibt es irgendwelche Orientierungspunkte?«
Sie zuckte hilflos die Achseln.
Er war verärgert. »Woher weißt du, wie du herkommst?« »Ich weiß es halt.«
Sein Ärger verwandelte sich in Frustration. »Jon, wo bist du?«
»Etwa anderthalb Kilometer vor dem Einkaufszentrum von Bainberry.«
»Du bist zu weit.«
»Zu weit von wo?«
»Von der Zufahrtsstraße.«
»Welche Zufahrtsstraße? Ich habe keine gesehen.« Die Spannung war durchs Telefon zu spüren. »Wir haben einen Notfall, Akiva. Ich muss dichjetzt finden!«
Deckers Puls beschleunigte sich. »Was für ein Notfall?«
»Chaim ist verschwunden.« Es knisterte. »Gleich bricht es ab!« schrie Jonathan. »Es regnet, ich sehe fast nichts, und es wird dunkel. Gib mir einen Hinweis!«
»Warte mal.« Er legte die Hand auf den Hörer. »Jen, kann mich jemand zur Landstraße fahren?«
»Jetzt nicht. Alle haben zu tun.«
»Was ist mit Angela? Du hast gesagt, sie ist in ein paar Minuten fertig.«
»Sie hat kein Auto. Sie wird abgeholt.«
»Und du?«
»Ich hab auch kein Auto. Ich werd auch meistens abgeholt.«
Sie war keine große Hilfe. Decker fragte sich, ob sie das mit Absicht tat. »Jon, ich laufe zur Landstraße. Ich bin näher an Quinton als an Bainberry, aber ich weiß nicht, wie viel näher.«
»Sie können dort nicht hinlaufen!«, unterbrach ihn Jen.
Decker ignorierte sie. »Ich werde wohl so zwanzig Minuten brauchen.«
»Sie können nicht im Dunkeln hinlaufen!«, wiederholte Jen. »Eine falsche Biegung, und Sie verlaufen sich.« »Es ist noch nicht ganz dunkel.« »Ich halt die Augen offen«, sagte Jonathan. »Bis gleich.« Decker legte auf.
»Sie können nicht im Dunkeln gehen. Sie werden sich verlaufen«, beharrte Jen. »Ich hab keine Wahl.«
»Und was ist mit Angela? Wollen Sie nicht mit ihr reden?«
»Die muss warten.«
»Sie werden sich verlaufen.«
»Du wiederholst dich.« Er ging zur Tür.
»Warten Sie!« Sie öffnete eine Schublade und zog eine Taschenlampe mit einem starken weißen Licht an der einen und einem roten Blinklicht an der anderen Seite heraus. »Nehmen Sie die. Vielleicht hilft es ja was.«
»Danke.«
Sie biss sich auf die Unterlippe und nickte. Diese Wendung der Dinge gefiel ihr nicht. Vielleicht war sie gern in seiner Gesellschaft... bei dieser Vorstellung musste er lächeln. »Mach's gut, Jen. Viel Glück.«
»Ihnen auch. Sie können's brauchen.«
Er lachte, nahm sich ihre Worte aber zu Herzen. Dann trat er hinaus in die Dämmerung und schlug den steilen Weg Richtung Landstraße ein.
Mit jedem Schritt wurde es dunkler, aber Decker ließ die Taschenlampe ausgeschaltet, damit seine Augen sich an das dämmrige Licht gewöhnten. Keine Orientierungspunkte, nur endloser Wald. Vor Jahren hatte er einen Stephen-King-Roman gelesen, in dem sich ein kleines Mädchen im Wald verirrte. Sie hatte wenigstens das Glück gehabt, im Sommer vom Weg abzukommen.
Was soll's, dachte er, folg einfach dem Weg. Dieser verwandelte sich rasch in einen Schlammstrom. Er musste am Rand entlanggehen, wo seine Füße auf Äste und Zweige traten und auf dem weichen Waldboden ausrutschten. Als das Gefälle stärker wurde, verlor er den Halt und fiel hin, aber wenigstens nicht auf die Pistole.
»Mist!« Er versuchte aufzustehen, aber seine Schuhsohlen glitten unter ihm weg. »Verdammt noch mal.« Es wurde dunkler.
»Mein Gott!« Er hielt sich an einem nassen Baumstamm fest und zog sich hoch.
Nach gründlichem Abwägen seiner Möglichkeiten beschloss Decker, die Hände zu Hilfe zu nehmen. Er faltete den Schirm zusammen und steckte ihn in die Gesäßtasche. Regen lief ihm über das Gesicht. Er hielt die Taschenlampe in der linken Hand und spielte Tarzan, indem er sich, Halt suchend, von Ast zu Ast h angelte. Er setzte seine Schritte langsam und mit
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