Die Schwingen des Todes
etwas sehen, aber die Dunkelheit vor ihm schien sich zu bewegen. Vielleicht spielte seine Fantasie ihm einen Streich. Doch dann bewegte sich wieder etwas. »Geh ganz runter, Jonathan. Leg den Kopf zwischen die Beine und die Hände übers Genick.«
Der Rabbi gehorchte. Decker bemerkte, dass sein Bruder die Lippen bewegte - stumme Gebete. Er hoffte, dass Jon auch eines für ihn sprach. »Ich sehe was. Na los. komm schon.«
Die Gestalt - vermutlich ein Mann - näherte sich dem Wagen und ging breitbeinig wie ein Westernheld, der eine Pistole ziehen wollte. Dann bemerkte Decker, dass er auf einem kleinen Motorrad saß, vielleicht eine Honda. Er kam ihnen auf der Fahrerseite entgegen, weil der Van mit der anderen Seite nah am Wald im Matsch stand.
»Los, los.«, flüsterte Decker.
Langsam näherte er sich ihnen.
»Noch ein Stückchen.«
»O Gott!«, stöhnte Jonathan.
»Halt durch, er ist fast da.« Decker schluckte.
Die Sekunden vergingen.
Eins. zwei. drei.
Er spähte wieder hinaus. »Na los, du Mistkerl, komm schon.« Vier. fünf. sechs.
Die Honda rollte zur Stoßstange auf der Fahrerseite. Jemand schaute durch die Scheibe. zum Armaturenbrett. Decker war klar, dass der Motorradfahrer sie nicht sehen konnte.
»Weiter.«
Der Mann ging zur Fahrertür. »Noch ein Stückchen.«
Decker stieß die Tür auf und streifte den Vorderreifen des Motorrads, wodurch Mann und Maschine aus dem Gleichgewicht kamen. Dazu richtete er den Lichtstrahl auf das Gesicht des Fahrers, der eine Skimaske trug. »Hände hoch!«
Etwas zischte an Deckers Kopf vorbei.
»Mist!« Er ließ die Taschenlampe fallen und duckte sich hinter die Fahrertür. Als er zum zweiten Mal hervorkam, schoss er aus der Hüfte, aber ein Kugelhagel zwang ihn erneut zum Rückzug. Die Geschosse prallten mit ohrenbetäubendem Scheppern auf die Vorderseite des Vans.
»Scheiße!«, schrie Decker. »Verdammte Scheiße!«
Er sprang hinter der Tür hervor und schoss zurück. Zwei Kugeln rissen einen Teil vom hinteren Schutzblech des Motorrads ab, was aber den Fahrer nicht daran hinderte davonzurasen. Decker beschloss, seine letzte Kugel nicht an ein fliehendes Ziel zu verschwenden.
Er keuchte heftig, hob die Taschenlampe, die den Schusswechsel überstanden hatte, auf und setzte sich hinters Steuer. »Bist du okay, Jon?«
»Ich glaube ja.«, flüsterte der Rabbi. »Abgesehen vom Zittern geht's mir gut.«
Decker ließ den Kopf aufs Lenkrad sinken. »Ich zittere auch.« »Sonst alles okay?«
»Ich bin noch ganz, und das ist jetzt erst mal das Wichtigste.« Er hob den Kopf und ließ den Motor an.
Jonathan kroch aus der Embryohaltung auf den Sitz zurück und schnallte sich an.
Decker legte den Gang ein, fuhr langsam auf die Straße zurück und gab dann vorsichtig Gas. Der Wagen bockte und holperte ein paar Meter vorwärts. Decker bremste.
»Wir haben einen Platten. Hoffentlich nur einen. Hast du einen Ersatzreifen?«
»Ja. Ich hab noch nie einen Reifen gewechselt, du hoffentlich schon.«
»Klar.« Decker fuhr wieder an den Straßenrand, stieg aus und besah sich den Schaden - eine durchlöcherte Motorhaube und ein platter Reifen. Den Motor wollte er gar nicht erst näher in Augenschein nehmen. Im Moment war es wohl besser, nicht alles zu wissen. Jonathan war ausgestiegen und starrte seinen ramponierten Wagen an.
»Ich mach das schon«, sagte Decker zu seinem Bruder. »Hat keinen Sinn, wenn wir beide nass werden.«
»Quatsch. Ich kann wenigstens die Lampe halten, auch wenn ich immer noch zittere.«
Decker legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter. »Du hältst dich gut.«
»Danke. Was meinst du, wer das war?«
»Keine Ahnung.«
»Donatti?«
»Vielleicht.«
»Merrin?«
»Auch möglich. Ich hab mir außerdem die Pistole von einem widerlichen Typen von Taxifahrer geborgt - das heißt, sie ihm abgenommen. Vielleicht war er es ja.« Er wischte sich den Regen aus dem Gesicht. »Ich hätte sogar gesagt, es war vielleicht Chaim, aber dein Schwager ist im Moment mit anderen Dingen beschäftigt.«
Gemeinsam holten sie den Ersatzreifen und das Werkzeug. Eine Stunde später fuhren sie auf den Parkplatz des Einkaufszentrums von Bainberry. Sie entschieden sich für den ersten Laden, der Sportsachen führte und gerade in Großbuchstaben einen RÄUMUNGSVERKAUF anpries. Sie wühlten in den stark heruntergesetzten Sachen und erstanden Sweat- und T-Shirts, leichte Regenjacken, Socken, Turnschuhe und einen Schirm. Gegen sieben Uhr abends waren sie in trockenen Sachen
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