Die Schwingen des Todes
war gelogen. Es ist gar nicht deinetwegen, sondern meinetwegen, Akiva. Ich muss dich einfach mal in einem anderen Kontext sehen, in einem familiären Rahmen. Ich habe wirklich Bedenken wegen dieser ganzen Geschichte. dass ich dich da mit hineingezogen habe. Ich weiß nicht, was da in meinem Kopf vorgegangen ist. Es überkam mich einfach in einem schwachen Moment.«
»Dafür hat man schließlich Familie.«
»Aber bisher war das alles ziemlich einseitig. Du hast mich noch nie um einen Gefallen gebeten.«
»Das liegt daran, dass ich der Älteste bin. Ich gebe, statt zu nehmen.«
»Aber wir sind alle erwachsen.«
»Diese Verhaltensmuster sind tief verwurzelt, Jon, und ich hab überhaupt kein Problem damit. Meine Jungs besuchen uns übers Wochenende. Wenn sie nicht hier wohnen würden, wäre ich vielleicht nicht gekommen. Aber sie besuchen uns, und ich bin hier also lass uns einfach das Beste daraus machen.«
»Du bist sehr großzügig. Eigentlich ist das ja meine Aufgabe, nicht deine.«
Ein paar Minuten später hatten sie den ärmeren Stadtteil erreicht. Der Van glitt über die fast leeren Straßen. Deckers Armbanduhr zeigte halb drei. »Wann beginnt der Schabbes?«
»Halb sechs.«
»Und wie lange brauchen wir, um nach Brooklyn zurückzufahr en?«
»Mindestens eine Stunde, wenn nicht länger. Warum?«
»Wenn wir noch genügend Zeit haben, würde ich gern mal bei der Polizei in Quinton reinschauen. und ein paar Fragen s tellen.«
»Das könnte knapp werden, obwohl wir die Strecke in Rekordzeit zurückgelegt haben.« Jonathan hielt vor dem Haus der Liebers. »Du hast Minda noch nicht kennen gelernt. Selbst unter günstigsten Umständen ist sie ziemlich schwierig.«
»Ich werde sehr behutsam vorgehen.«
»Das spielt keine Rolle«, erwiderte Jonathan trocken. »Minda ist einfach Minda - und daran wird sich auch nichts ändern.« Er stieg aus dem Wagen und knallte die Tür zu. Decker zuckte zusammen und stieg ebenfalls aus. Er musste sich beeilen, um mit seinem Bruder Schritt zu halten. Jon war gereizt - das machte dann zwei übellaunige Brüder.
Chaim öffnete die Tür, noch bevor Jonathan geklopft hatte. »Sie ist wach, aber gar nicht gut beieinander, Yonasan. Ich glaube, wir sollten den Arzt rufen.«
»Können wir erst mal reinkommen?«, fragte Jonathan.
»Aber sicher. Sicher.« Chaim trug ein frisch gestärktes Hemd. Und er hatte ein Bad genommen. Obwohl er bereits um seinen Bruder trauerte, begann die offizielle Trauerzeit erst nach der Beerdigung. Außerdem war es zulässig, vor dem Schabbat zu baden. Lieber ging einen Schritt zur Seite, sodass die beiden eintreten konnten.
»Was hast du herausgefunden?«, fragte Chaim.
Decker nahm auf einem der zwölf Esszimmerstühle Platz. »Bin ich gemeint?«
»Ja, natürlich. Warst du nicht die ganze Zeit bei der Polizei?«
»Doch, schon.«
»Also, was hast du herausgefunden?«
Decker rieb sich über die Stirn. »Mr. Lieber.«
»Chaim.« Er marschierte auf und ab. »Was soll das? Wir sind doch miteinander verwandt. Warum nennst du mich jetzt wieder >Mr. Lieber Hast du schlechte Neuigkeiten?«
»Also im Augenblick habe ich gar keine Neuigkeiten«, sagte Decker.
»Aber du warst doch vier Stunden bei der Polizei.«
»Drei«, sagte Jonathan. »Es war ziemlich viel Verkehr...«
»Ob drei oder vier. du musst doch irgendwas herausgekriegt haben!« Lieber starrte Decker zornig an. »Was hat die Polizei dir erzählt? Hat sie dir überhaupt irgendwas erzählt?«
»Wir befinden uns noch in der Anfangsphase der Ermittlungen.«
»Ach, was!« Lieber machte eine abschätzige Handbewegung. »Erzähl mir doch nichts. Das sind doch nur Ausflüchte.«
»Chaim!«, unterbrach Jonathan seinen Schwager. »Wenn er irgendetwas wüsste, würde er es dir doch mitteilen?«
»Zurzeit kann ich nur so viel sagen«, meinte Decker, »ich hab den Tatort gesehen und glaube nicht, dass Shaynda mit deinem Bruder in diesem Hotel war.«
»Und wo ist sie dann? Wo ist sie?«
»Das weiß ich nicht.«
»Ach, komm schon! Sie ist ein unschuldiges Mädchen! Wo würde sie hingehen?«
»Ich weiß es nicht, Chaim«, wiederholte Decker. »Ich komme aus L.A., nicht aus New York. Aber ich garantiere dir, dass die Polizei überall nach ihr sucht.«
»Ach!«
Deckers Schädel dröhnte. Er versuchte eine andere Taktik. »Chaim, könnte ich jetzt vielleicht einen Blick in Shayndas Zimmer werfen?«
»Warum?«
»Um mir einfach ein Bild von dem Mädchen zu machen.« Eine schrille Stimme rief Chaims
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