Die Schwingen des Todes
galt nicht nur für ihr Leben, sondern auch für sein eigenes. Selbst heute noch beschäftigte ihn dieses Thema. Die Menge an Blutsverwandten war einfach überwältigend. In Los Angeles fühlte Decker sich manchmal wie ein kleines Schiff auf einem großen Meer der Einsamkeit. Hier schien es ihm jedoch, als hätte sein Schiff angelegt - im Hafen war es sicher, aber übervoll. Erdrückend war vielleicht der bessere Ausdruck.
Und dennoch hatte eine große Familie auch etwas für sich. in guten wie in schlechten Zeiten.
Der Anblick des langen Esstischs erinnerte Decker an das Haus der Liebers, und einen Augenblick spürte er den Kummer und das Leid, das sie jetzt durchmachten. Doch er zwang sich, den Schmerz beiseite zu schieben. Vor dreizehn Jahren hatte das Ehepaar Lazarus ihren einzigen Sohn verloren, und dennoch waren ihre Herzen an diesem Abend von simcha - Freude -erfüllt, während sie voller Stolz auf ihre Enkel und die neunjährige Hannah blickten. Decker war es den Lazarus' schuldig, sich des Lebens zu freuen. Er beugte sich hinunter und küsste den kleinen Mann auf den Hut. »Schabbat Schalom, Sejde.«
Der alte Mann lächelte mit schmalen, blassen Lippen. Er warf den Stock auf das Sofa und nahm Deckers Arm. »Du bist ein kräftiger junger Kerl. Ich darf mich doch auf dich stützen, oder?«
»Jederzeit. Die Polizei, dein Freund und Helfer.«
Die Feier war wunderbar, bereichernd, erbauend, aber auch sehr anstrengend!
Als Rina endlich ins Bett ging, war es bereits nach eins. Da Sora Lazarus am Schabbat nicht abwusch, würde Samstagabend e in riesiger Berg schmutziges Geschirr auf sie warten. Aber es war wirklich erstaunlich, wie viel Arbeit auch so noch erledigt werden wollte: servieren, abräumen, Reste abwischen, Lebensmittel wegräumen, Geschirr stapeln, Besteck sortieren -und das alles in einer winzigen Küche!
Und dann diese anfängliche Spannung, als Frieda eintraf. Aber Peter gelang es immer wieder, sie zu verblüffen. Er war ein anderer Mann als vor zehn Jahren, wesentlich vertrauter und ruhiger im Umgang mit jüdischen Sitten und Gebräuchen, ja fast schon entspannt - wie er mit den Jungs und allen anderen scherzte und lachte. Tatsächlich war es Jonathan, der angespannt und nervös wirkte, aber er musste sich auch um so vieles kümmern. Rina fragte sich, was wohl zwischen Peter und Jonathan vor sich ging.
Nachdem sie ins Bett geklettert war, knautschte sie ihr Kopfkissen zusammen und kuschelte sich unter die Decke. Im nächsten Moment spürte sie, wie Peter das winzige Stückchen ihres Gesichts, das noch nicht unter der Decke verschwunden war, behutsam küsste.
»Du bist noch wach?«, flüsterte sie.
»Ich hab auf dich gewartet.«
Sie drehte sich zu ihm und sah ihn an. »Ich liebe dich wahnsinnig. Aber im Augenblick bin ich nur noch müde.«
»So meine ich das doch gar nicht, mein Schatz!« Er küsste sie auf die Nase. »Ich bin auch müde. Ich wollte dir nur sagen, dass ich dich liebe. Das war schon alles.«
Sie schmiegte sich an ihn. »Das ist sehr lieb von dir. Wenn ich auch nur ein bisschen Energie hätte, würde ich dich dafür belohnen.«
Decker schwieg einen Moment. »So gesehen, könntest du es ja mal versuchen.«, sagte er schließlich lächelnd.
Sie gab ihm einen Klaps auf die Schulter. »Du warst heute Abend einfach wunderbar. Wenn man bedenkt, was dir zurzeit alles im Kopf rumschwirren muss, dann war das eine Meisterleistung. «
»Man nennt das auch Aufgabenverteilung. Ich werde mich von den Mistkerlen doch nicht unterkriegen lassen.«
»Und wie läuft es zwischen dir und Jonathan?«
Ein schwerer Seufzer. »Ich will es mal so ausdrücken«, begann Decker. »Erinnerst du dich, als wir vor zehn Jahren hier waren und Frieda Levine plötzlich herausfand, dass ich ihr lang verschollener Sohn bin? Und wie sie in Ohnmacht fiel, als sie mich sah? Und wie sich der ganze Abend zu einem riesigen Fiasko entwickelte und du ständig rein- und rausgelaufen bist, um ihr und mir etwas zu essen zu holen? Und dass Rosch haSchana das reinste Chaos war? Und dass - als krönender Abschluss - Noam am nächsten Tag verschwand?«
»So schlimm?«
»Nein, das war der reinste Spaziergang im Vergleich zur heutigen Situation. Ezra und Briena waren wenigstens auf meiner Seite. Sie wollten, dass ich Noam finde, und sie haben mir dabei geholfen.«
»Helfen dir Chaim und Minda denn nicht?«
»Minda ist eine sehr schwierige Frau. Sie mag mich nicht. Sie war kurz davor, mich offen als goj zu
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