Die Schwingen des Todes
nachzudenken. »Ich kenne die Liebers nicht besonders gut. Und ich will mich nicht aufdrängen, auch wenn mein Bruder mich gebeten hat, hierher zu kommen. Es ist doch so: Vermutlich wissen Sie drei mehr über die Familie als ich. Sie arbeiten schließlich jeden Tag mit ihnen zusammen, oder?«
Das konnte niemand bestreiten.
»Es ist eine Schande«, fuhr Decker fort. »Quel dolor. Den Sohn auf solch schreckliche Weise zu verlieren. Ich habe gehört, dass sie sich sehr nahe standen - Vater und Sohn.«
Schweigen.
Decker zuckte die Achseln. »Vielleicht aber auch nicht.« Er blickte zur Seite.
»Mr. Lieber liebt alle seine Kinder«, sagte die kleine Frau.
»Natürlich.« Decker lächelte. »Er war sehr froh, als auch Ephraim bei ihm im Geschäft einstieg.«
Keine Reaktion.
»Das hat zumindest mein Bruder erzählt«, erklärte Decker.
»Er war guter Mann... Mr. Ephraim«, erwiderte die kleine Frau. »Immerfeliz... immer glücklich. Immer lächeln.«
»Ja, immer lächeln«, wiederholte die zweite Frau. Sie war etwas jünger, schlanker und größer als ihre Kollegin, wenn auch nicht viel. »Er machen viel Witze. Mr. Ephraim. Immer Witze.«
»Also ganz anders als sein Bruder?«, fragte Decker.
»Pssst.« Die Zwergenfrau rümpfte die Nase. »Er ist guter Mann... Mr. Jaime, aber nicht mit Witze. Muy grave. Und er beobachten Angestellte, als wären bandidos, vor Angst, dass sie stehlen. Ich stehlen gar nichts. Große Fernseher in meine Wohnung - das estuupido! Wenn anderen auf meine Straße finden raus, dass ich haben große Fernseher, sie brechen ein in meine Wohnung und stehlen Fernseher. Und dann sie stehlen andere Sachen, die auch in Wohnung. Ich haben nur kleine Fernseher in meine Schlafzimmer. Mr. Lieber. er mir schenken zu Weihnachten vor zwei Jahre. Fernseher mit Fernbedienung und Kabelanschluss. Ich glücklich.«
»Wozu du brauchen mehr?«, warf die andere Frau ein. »Fernseher besser als Männer.«
Die beiden Frauen lachten, aber der Mann schüttelte m issbilligend den Kopf.
»Mr. Lieber schenkte Ihnen einen Fernseher?«, fragte Decker. »Das war doch sehr nett von ihm.«
»Er sehr nette Mann; ich arbeiten hart. Sieben Uhr, ich im Geschäft. Eine Stunde Mittag. Dann ich kommen zurück und arbeiten bis sechs. Jede Tag an fünf Tage in Woche. Das Geschäft nicht auf an Samstag, und ich nicht arbeiten an Sonntag. Ich gehen in die Kirche. Dann ich lassen mache meine Nägel.« Sie zeigte ihm ihre roten Krallen. »Acryl. Sehr hart.«
»Sehr hübsch«, sagte Decker.
Die Frau errötete leicht. »Er sehr gut zu mir. Mr. Lieber.«
»Welche trabajo machen Sie?«, fragte Decker.
»Ich machen alles. Ich machen Kasse. Ich füllen Regale. Sehr, sehr, sehr große Regale. Das Geschäft es sehr groß mit große Regale.« Sie hielt ihre Hand hoch in die Luft. »Wir haben große Leiter. Zu Anfang Mr. Lieber nicht wollen, dass ich hinaufklettern, aber ich haben sehr gute Schuhe. No Problem. Ich sehr stark.« Sie zeigte ihre Muskeln.
Ein kleines Lächeln stahl sich auf die Lippen des Mannes. Auf Spanisch ließ er eine Tirade los, in der er andeutete, ihre Muskeln stammten wohl eher davon, dass sie so viele Pythons gewürgt hätte. Sie warf ihm einen finsteren Blick zu, errötete aber, als ihr bewusst wurde, dass Decker den Mann verstand. Schon drohte ein heftiger Wortwechsel, aber Decker unterbrach sie.
»Was ist mit Mr. Jaime? Ist er auch ein netter Mann?«
»Sehr nette Mann«, antwortete die kleine Frau. »Aber nicht mit Witze. Nicht wie Mr. Ephraim. Er machen viel Witze. Und er mir immer geben mucho ayuda... Mr. Ephraim.«
»Ayuda« bedeutete Hilfe. Das Tageslicht schwand zunehmend. »Sie beide haben zusammengearbeitet.«
»Si, si. Wir füllen Regale zusammen. Manchmal ich r aufklettern, manchmal er raufklettern.«
»Du kannst ja mal auf mich raufklettern, Luisa«, sagte der Mann auf Spanisch.
Luisa reagierte mit einer obszönen Handbewegung. Dann verdüsterte sich ihre Miene erneut. »Er immer mit mir gesprochen. Mr. Ephraim. Er nach meine Kinder fragen. Einmal er mir geben Geld für Strafzettel für falsch parken. Fünfzig Dollar. Ich ihm zahlen zurück, aber er nicht fragen nach Geld.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Sehr, sehr traurig.«
Decker nickte zustimmend.
Luisa rieb ihre Hände gegeneinander. »Sehr kalt, wo?«
»Möchten Sie meine Handschuhe anziehen?«, fragte Decker. »Ich kann meine Hände ja in die Taschen stecken.«
Sie warf einen sehnsüchtigen Blick darauf. »Hier nehmen Sie
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