Die Schwingen des Todes
an. Als Decker ihm ein Zeichen gab, löste er sich kurz von seiner Frau.
»Kannst du Rina zu deinem Schwiegervater mitnehmen und später zurück nach Brooklyn bringen?«
»Du kommst nicht mit?«
»Ich kann nicht, Jon. Es hat sich was ergeben.« »Was?« Das Gesicht des Rabbi nahm schlagartig wieder Farbe an. »Bist du auf eine Spur gestoßen?«
»Nein, nein«, log Decker. »Ich versuche nur, noch ein paar Dinge mit den Detectives zu klären.«
»Dafür würdest du ja wohl keinen schiwa-Besuch versäumen«, fuhr Jonathan ihn an. »Du hast eine Spur.«
Decker zog ihn beiseite, weg von den anderen. »Hör mir gut zu, Jonathan, denn es ist wirklich wichtig. Damit das klar ist:
Das muss unbedingt unter uns bleiben.« Der Rabbi nickte aufgeregt.
»Nein, ich habe dir nichts zu sagen«, beharrte Decker. »Du musst mir einfach vertrauen. Aber du darfst mit niemandem über mich sprechen - nicht mit deinem Schwager und auch nicht mit deine m Schwiegervater. Wenn sie fragen, wo ich bin, sag ihnen einfach, dass ich mich nicht wohl fühle.«
»Ja, ja, ich versteh schon.« Jonathan zog Decker am Ärmel. »Aber ich bin doch dein Rabbi, Akiva. Erzähl es mir! Ich sichere dir absolute Verschwiegenheit zu. Ich werde niemanden auch nur ein Wort davon sagen. Es ist nicht fair, mich auszuschließen! Bitte! Ich muss es einfach wissen!«
»Schluss jetzt!« Decker versuchte mühsam, sich zu beherrschen, und blickte seinem Bruder fest in die Augen. »Ich erkläre es dir noch mal: Ich habe dir nichts zu sagen, und du sagst zu niemanden auch nur ein Wort! Wenn du dich verplapperst oder irgendjemandem durch ein kleines Zwinkern oder einen Blick einen Hinweis gibst, vermasselst du alles! Hast du das verdammt noch mal verstanden?«
Der Rabbi wich erschrocken zurück.
Decker fuhr sich übers Gesicht. Der Umgang mit Donatti verwandelte auch ihn in einen Mistkerl. »Tut mir Leid.«
»Ich verstehe.« Jonathan legte seinem Bruder eine Hand auf die Schulter. »Ich habe nicht die geringste Vorstellung davon, mit wem oder womit du es zu tun hast, Akiva, aber offensichtlich ist es gefährlich. Denk einfach nicht mehr darüber nach. Ich weiß, wie man jemanden glaubwürdig entschuldigt. Sie werden keinen Verdacht schöpfen.«
Decker stieß laut die Luft aus. »Jon, du musst mir einfach vertrauen.«
»Das tu ich. Es tut mir Leid, dass ich dich so bedrängt habe.« Mühsam versuchte Decker, seine heftige Atmung unter Kontrolle zu bringen. »Ich werde Rina holen.« »Akiva.« Decker wartete.
»Danke.« Er reichte seine m Bruder die Hand und umarmte ihn innig. »Ich danke dir für alles.«
Es kostete Decker über drei Stunden, die Adresse ausfindig zu machen, aber nach etlichen Abzweigungen und Wendemanövern war er sich nicht mehr sicher, ob er auch die richtige Adresse gefunden hatte. Der eigentliche Treffpunkt lag unter verlassenen Hochbahngleisen, ein Stück von der Stelle entfernt, die Donatti ihm genannt hatte. Er war den Anweisungen gefolgt, aber Chris hatte ihn mit »rechts« und »links« statt mit »Osten« und »Westen« dirigiert. Decker wusste nur, dass er irgendwo in Jersey war, weit weg von jeder normalen Behausung, weit weg von jeglicher Zivilisation. Die letzte Stadt auf dem Weg hierher war Camden gewesen - eine völlig verarmte, verwahrloste, schlecht beleuchtete Gegend aus heruntergekommenen Mietskasernen und verbarrikadierten Bauruinen. Decker erinnerte sich, dass er vor einiger Zeit einen Artikel über Stadterneuerung im Raum New Jersey gelesen hatte. Aber nach dem zu urteilen, was er sah, konnte davon kaum die Rede sein.
Inzwischen war es kurz vor elf. Decker wartete in der feuchten Kälte, die ihm bis ins Mark kroch, und wippte auf seinen Füßen, direkt neben sich den Radschlüssel aus dem Wagen, seine einzige Verteidigungswaffe. Nervös rieb er sich die Hände, um die Blutzirkulation aufrechtzuerhalten. Warum zum Teufel hatte er Luisa seine Handschuhe gegeben? Der einzige Vorteil bestand darin, dass er sie später noch mal aufsuchen und aushorchen konnte und sie sich hoffentlich an sein idiotisches, aber ritterliches Verhalten erinnern würde.
Sein Wagen stand etwa fünfzig Meter von ihm entfernt; näher hatte er ihn nicht heranfahren können. In der Ferne hörte er das Rauschen des Highways - dumpfes Motorendröhnen, das Rumpeln schwerer Sattelschlepper und ein gelegentliches Hupen. Abgesehen von den Industriegeräuschen war die Gegend unheimlich still.
New Jersey, Heimat von Bruce »Born in the USA« Springsteen.
Weitere Kostenlose Bücher