Die Séance
Augen nicht aufmachen, dachte sie. So geht es bestimmt von selbst wieder weg.
Aber das Gefühl ging nicht weg, und schließlich musste sie die Augen öffnen und in die Schatten blicken, nur um sicherzugehen, dass da wirklich nichts war.
Langsam öffnete sie ein Auge.
Es war, als würde ihr das Blut stocken und das Herz gefrieren.
Sie schloss das Auge wieder. Sie musste sich nur eingebildet haben, was sie glaubte, gesehen zu haben. Einen Schatten. Einen Schatten in der Gestalt eines Mannes, der am Fuß ihres Bettes stand.
Ihr eingefrorenes Herz begann wild zu hämmern.
Eine ganz normale Reaktion, sagte sie sich selbst, wo da draußen ein Mörder frei herumläuft.
Das war alles Unsinn, dachte sie. Unmöglich konnte jemand hier sein.
Sie riss beide Augen auf und setzte sich gleichzeitig auf.
Da war jemand.
Eine große, kräftige, aber irgendwie schattenhafte Gestalt, die am Ende ihres Bettes stand.
Christina schrie auf und sprang aus dem Bett, und dann stürzte sie praktisch aus dem Zimmer.
Sie raste zur Tür, raus auf den Flur und die Treppe runter. Sie platzte durch die Haustür, auf die Veranda und sprang die beiden Stufen runter auf den Erdboden. Sie rannte bis zum Ende der Einfahrt, und dann drehte sie sich endlich um, nach Luft schnappend, um zu sehen, ob er sie verfolgte.
Schwer zu sagen allerdings, weil es so eine komische Nacht war. Der Nebel hing immer noch tief über dem Boden, während von oben, durchschimmernd wie eine silbrige Illumination, die große Kugel des Vollmonds hing.
Ihre Instinkte übernahmen die Kontrolle. Nebel oder nicht, sie musste ihn sehen, wenn er aus dem Haus kam, und er verfolgte sie eindeutig nicht. Aber sie hatte ihre Schlüssel nicht dabei. Das war okay; sie bräuchte bloß rüber zu Tonys Haus zu gehen und wäre in Sicherheit.
Vor ihrem inneren Auge stellte sie sich vor, wie sie die Gestalt verfolgen würde, sie erwischte und zu Fall brachte, direkt vor Tonys Haustür.
Dann tippte ihr jemand auf die Schulter.
Sie erstarrte.
Wirbelte herum.
Schrie.
Da stand er.
Es war unmöglich, aber er war da. Irgendwie war er aus dem Haus gekommen, ohne dass sie ihn gesehen hatte, und jetzt war er hinter ihr.
Und er war auch kein Schatten. Nicht nur das, sie kannte sein Gesicht.
Es dauerte einen Moment, bis sich daran erinnerte, wo und wann sie sein Gesicht schon einmal gesehen hatte.
Dann wusste sie es.
Sie hatte es auf den Titelseiten sämtlicher Zeitungen gesehen, nachdem Beau Kidd erschossen worden war, als man ihn stellte, als er über der Leiche seines letzten Opfers kniete.
“Christie …”
Sagte er wirklich ihren Namen, oder war das nur der Wind? Oder war sie in einem schrecklichen Albtraum gefangen, in dem das feuchte Gras zwischen ihren nackten Zehen lächerlich real war und das Gesicht des Mannes vor ihr auf bizarre Weise lebendig?
“Christie …”
Die Welt schien zu verschwimmen, sich im Nebel aufzulösen.
“Bitte … hilf mir.”
Sie war in ihrem Leben noch nie ohnmächtig geworden, aber jetzt wurde sie es, fiel flach auf die weiche, feuchte Erde und sah nichts mehr als schauerlich kalte Finsternis.
4. KAPITEL
“H ey.”
Christina nahm die tiefe, volle Stimme im selben Augenblick wahr, als ihr die kalte Unbequemlichkeit des Erdbodens unter ihr bewusst wurde.
Die Sonne ging auf, bemerkte sie und fühlte sich dabei vollkommen desorientiert.
“Christie?”
Sie blinzelte. Die Sonne verursachte einen Schleier, als ihre Strahlen den Nebel auflösten, also blinzelte Christie noch einmal, drehte den Kopf und sah, dass jemand über ihr stand. Für einen Augenblick stieg die Angst wieder in ihr hoch. Aber das Sonnenlicht war jetzt strahlend hell, und als sie zum dritten Mal blinzelte, konnte sie endlich wieder klar sehen und erkannte, wer vor ihr stand.
Jed Braden.
Er kauerte sich neben sie.
“Alles in Ordnung?” Seine Stimme klang besorgt und rau.
Sie bemerkte, dass sie auf dem Rasen lag und verzog das Gesicht.
“Bist du verletzt?”, wollte er besorgt wissen, die Hände auf ihren Schultern, sein Gesicht ganz ernst, mit einem angespannten Ausdruck.
“Nein, nicht verletzt. Mir geht’s gut.”
Sie sah die Erleichterung auf seinem Gesicht.
“Wirklich? Alles klar?”
“Absolut. Ich schwöre.”
“Gott sei Dank, dass du noch am Leben bist”, murmelte er.
Sie stützte sich mit Mühe auf die Ellbogen. “Ich schätze, ich … bin einfach eingeschlafen.”
“Du machst Witze, oder?”, sagte er. Seine Stimme wurde wieder schärfer. “Du
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