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Die Seele der Elben

Titel: Die Seele der Elben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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geduldig, was nicht unbedingt eine meiner Stärken war, aber ich spürte, dass jede Drängelei nur dafür gesorgt hätte, dass ich gar nichts mehr erfuhr.
    Endlich begann er zu erzählen, leise, als spräche er mit sich selbst. Durch das große Fenster fiel helles Tageslicht, aber seine Stimme, die ein Lied aus uralten Zeiten vortrug, ließ das Licht erlöschen und machte mich zum Gefährten, der ihn in sein Reich des Schattens und der Dunkelheit begleitete.
    Die Wiederkehrer erinnerten sich nicht daran, fort gewesen zu sein – oder sie gaben vor, sich nicht zu erinnern. Einige wenige lebten ihr Leben so weiter wie vor ihrem Verschwinden, unversehrt bis auf die fehlende Zeit im Fluss ihres Lebens. Aber die meisten waren verändert. Es fiel nicht sofort auf, denn zuerst übertönte die Freude über ihre Wiederkehr alle Anzeichen, dass in der unerklärlichen Zeit ihrer Abwesenheit etwas mit ihnen geschehen sein musste.
    Die Wiedergekehrten zogen sich von ihren Freunden und ihrer Familie zurück. Einige von ihnen verschwanden nach kurzem erneut und tauchten nie wieder auf. Und die, die blieben, wandelten wie Geister unter ihren ratlosen Freunden. Das allein wäre schlimm genug gewesen, aber als der Wandernde Hain seine Mittsommer-Position erreichte, begannen die Wiedergekehrten zu verblassen wie Tinte auf einem schlecht vorbereiteten Pergament.
    An diesem Punkt seiner Erzählung muss ich etwas gemacht haben, was ihn innehalten ließ – eine Bewegung, ein Geräusch, ein verblüfftes Einatmen. Er hob den Kopf, als wäre er überrascht, jemanden neben sich zu finden.
    Â»Sie verblassten?«, fragte ich, unsicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte.
    Er nickte, aber nicht als Antwort auf meine Frage, sondern als lausche er einer inneren Stimme. »Es glich dem, was die Menschen Krankheit nennen. Unsere Heiler haben keine Erfahrung mit diesem Phänomen. Wir waren hilflos.«
    Das Licht wanderte über die Bücherregale hinter uns, während er langsam, nach Worten suchend, längst vergessen geglaubten Empfindungen hinterherschmeckend, von lange zurückliegenden Begebenheiten erzählte. Ich sah die Wiedergekehrten durch den Goldenen Hain geistern – ein Ort, den ich selbst nie besucht hatte –, ich empfand das Entsetzen der Elben über den Verlust, denn jene Erinnerungen, die den Wiedergekehrten fehlten, fehlten nun auch im sorgfältig konservierten Gedächtnis des Elbenvolkes. Ich muss zugeben, dass mich dies am meisten erschütterte und dass ich unwillkürlich mit dem Daumen das Siegel des geschlossenen Buches auf meine Stirn, meinen Mund und mein Herz zeichnete. Fehlende Erinnerungen, fehlende Seiten im Großen Buch … Welches Unglück, welche Blasphemie!
    Aber es kam noch schlimmer – die erkrankten Elben schwanden dahin, vergingen wie Eiszapfen in der warmen Frühlingssonne, lagen schließlich starr und bleich, ausgemergelt und spröde wie dürre Zweige auf dem Lager, das ihre besorgten Familien ihnen bereitet hatten, hauchten schließlich unhörbar ihren letzten Atem aus.
    Das Wehklagen war groß. Selbst die Erinnerungen, die den Wiedergekehrten noch geblieben waren, waren nun für alle Ewigkeit verloren.
    Ich konnte einen Seufzer nicht unterdrücken, und ein Schaudern richtete meine Haare auf, als hätte einer der wiedergekehrten Geister mir sanft in den Nacken gepustet.
    Maris wandte mir sein Gesicht zu. Ich sah sein weißes Haar und die wasserfarbenen Augen und seufzte unwillkürlich ein zweites Mal. Wenn jemand nach Verblassen und Dahinschwinden aussah, dann war das Maris Elbenstern, Barde und Bibliothekar des altehrwürdigen Bardensteins.
    Â»Das ist nicht das Ende der Geschichte«, sagte ich.
    Â»Es ist das Ende – für heute«, gab er zurück und erhob sich. Eine zierliche, hellbraune Taube, die Brotkrumen vom Fenstersims pickte, flog auf und setzte sich auf seine Schulter. Maris hob die Hand und kraulte die Taube dort am Hals, wo ihre Federn einen zarten schwarzen Ring bildeten, der wie ein Halsreif aussah.
    Â»Komm heute Nacht zu mir. Vielleicht findest du ja noch einen Apfel in deinem Gepäck?«
    Ich sah ihm nach. Hochgewachsen, wie er war, musste er den Kopf in der niedrigen Tür ein wenig einziehen, was er mit fließender Eleganz, wie sie seinem Volk eigen war, erledigte.
    Ich starrte noch eine Weile auf die geschlossene Tür, dann schüttelte ich

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