Die Seele der Nacht
Ursache?«
»Der Schattenlord?«, schlug der Erdgnom vor.
Meister Ýven schüttelte den Kopf. »Es scheint so, ja, es würde Sinn machen, wenn das Land sich seiner Gier anpasste, aber reicht seine Macht bis in den Himmel?« Er wiegte zweifelnd den Kopf hin und her. »Was ist, wenn auch er nur ein Teil der Wirkung ist – demselben Zwang unterworfen? Wenn auch er auf dem Kreisel sitzt, der sich schneller und schneller dreht, bis die bunten Farben zu einem stumpfen Grau verschwimmen? Bis alles einander gleicht, sich in grausamer Eintönigkeit wiederholt? Nacht für Nacht nur Angst und Tod!«
»Was für ein Wesen sollte das sein, das noch mächtiger ist als der Schattenlord, der allein schon durch seinen Blick töten kann?«, wollte Wurgluck wissen.
»Etwas, das nicht von dieser Welt ist? Das außerhalb Phantásiens steht?«
»Was gibt es schon außerhalb Phantásiens?«, gab Wurgluck zu bedenken. »Die Menschenwelt – und sonst noch?«
Meister Ýven wandte sich wieder seinem Fernrohr zu. »Ja, die Menschenwelt«, sagte er nachdenklich. »Ein interessantes Thema, über das nachzudenken sich lohnt.«
Da er das Gespräch anscheinend für beendet hielt, verabschiedete sich Wurgluck und kletterte langsam zur sicheren Erde zurück. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Blick gesenkt, umrundete er den Steinkreis. Was sollte er von den merkwürdigen Worten des Forschers halten? War er nur ein Verrückter, oder sah er mehr als die anderen Bewohner Phantásiens?
Plötzlich schreckte er aus seinen Gedanken. Eine Gestalt kam ihm entgegen. »Céredas, ich dachte, du schläfst. Heute Nacht ist es nicht nötig, Wache zu halten.«
Der Jäger nickte. »Ja, das Böse ist fern. Es sammelt sich in einem anderen Teil Nazagurs, um sich zu nähren.«
»Bist du denn gar nicht müde?«, fragte der Gnom.
»Müde?« Céredas schien zu überlegen. »Müde, ja«, sagte er dann, »ich finde aber keinen Schlaf. Es muss wohl an diesem Land und seinen Schatten liegen. Doch ich möchte dich nicht aufhalten. Du willst sicher dein Lager aufsuchen!« Er nickte dem Gnom zu und ging davon.
Wurgluck sah ihm nach. »Ich werde dich im Auge behalten müssen, mein stolzer Jäger!« Er seufzte schwer und trottete zur Hütte zurück. Im Schein des nun fast herabgebrannten Feuers zog er sein Buch heraus und zückte die Feder, um seine Notizen fortzuführen.
Céredas umrundete den steinernen Kreis und ließ sich dann im Gras nieder. Den Rücken an einen Steinblock gelehnt, die Augen geschlossen, saß er da und lauschte dem Pochen in seiner Brust. In heißen Wellen pulsierte es durch seinen Körper. Schmerz vermischte sich mit unruhigem Verlangen. Es fiel ihm schwer sitzen zu bleiben. Die Nacht rief seinen Namen. Wie lange noch?
Er dachte an Tahâma und stellte sich vor, wie es wäre, sie in den Armen zu halten, ihren Mund zu küssen. Welch süßer Traum! Ja, ein Traum, den er mit sich nehmen würde auf seine einsamen Wanderungen durch Wälder und Berge. Der Abschied nahte. Wie viele Nächte konnte er ihn noch hinausschieben? Céredas barg das Gesicht in seinen Händen. Wenn es doch nur einen Ausweg gäbe! Aber er konnte keinen erkennen.
Die Sonne war schon aufgegangen, als der Meister die Gefährten weckte. Sie setzten sich zu einem kargen Frühstück zusammen, dann wurde es Zeit, Abschied zu nehmen. Aylana wollte zu ihrer Hütte zurückkehren, während die Freunde dem Weg nach Gwonlâ folgen würden, den der Forscher ihnen beschrieben hatte. Meister Ýven eilte schon wieder geschäftig davon, Aylana und Tahâma aber hielten sich noch lange an den Händen.
»Wir werden uns bald wieder begegnen«, sagte Aylana leichthin. »Ich kann es fühlen. Viel Glück auf eurem Weg.« Sie sprang auf Glyowinds Rücken und galoppierte davon.
Kapitel 10
Das Dorf der Tashan Gonar
Sie ritten den ganzen Tag in strengem Tempo. Nur wenn die Pferde zu sehr ins Schwitzen kamen, ließen sie sie eine Weile im Schritt gehen. Tahâmas Stimmung wechselte von freudiger Erwartung zu ängstlicher Verzagtheit. Wenn Meister Ýven Recht hatte, dann würde sie noch heute zu ihrem Volk zurückkehren. Aber was würde sie vorfinden? Wie würde sich ihr Leben nun gestalten? Und was wäre mit Céredas? Sie wandte sich zu dem Jäger um, der heute immer mal wieder zurückblieb und düster vor sich hin starrte. Sie wollte ihn nicht verlieren, konnte sich ihn jedoch nicht auf Dauer im Dorf der Blauschöpfe vorstellen. Das Herz wurde ihr schwer. Die Gefährten folgten der Straße
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