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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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weiter nach Norden, die eine karge Hochebene überquerte. Sie war von zerklüfteten Felsbrocken übersät und nur ab und zu mit verkrüppelten Birken und stacheligen Büschen besetzt. Dann kamen sie durch einen düsteren Wald mit dichtem Unterholz. Die Bäume und Büsche waren so dicht mit einer efeuartigen Kletterpflanze ineinander verwoben, dass die Reiter keinen Schritt weit vom Weg abweichen konnten. Düster und stickig war es hier am Fuß der hoch aufragenden Bäume. Kein Vogel sang, kein Insekt summte um sie herum. Erleichtert griff Tahâma nach ihrer Flöte, als sie am Nachmittag den Waldrand erreichten und unter dem weiten Himmel wieder frei atmen konnten. Das Mädchen spielte fröhliche Melodien, während sie zwei Bäche überquerten, deren klares Wasser über kiesigen Grund plätscherte. Sie ritten über eine Wiese voll knorriger Apfelbäume. Tahâma zügelte ihre Stute und sah sich um. Musste hier nicht der Weg zum Dorf abzweigen, oder hatte sich Meister Ýven geirrt?
    »Dort drüben, am Fuß des Hügels, ist das nicht ein Pfad?«, fragte Céredas und deutete auf eine dunkle Linie im Gras, die sich nach Westen wand.
    Wurgluck, der darauf bestanden hatte, heute mit dem Jäger zu reiten, kniff die Augen zusammen und nickte.
    »0 ja, das ist der Weg«, jauchzte Tahâma und trieb ihre Stute wieder an. Die Vorfreude, all die Freunde und Verwandten wiederzusehen, ließ ihr Herz jubeln und schob die trüben Gedanken in den Hintergrund.
    Céredas und Wurgluck jedoch schienen ihre Freude nicht zu teilen. Sie wechselten immer wieder besorgte Blicke. »Wer weiß, was wir hinter dem Hügel vorfinden werden«, brummelte der Erdgnom.
    Sie ritten einen grünen Hang hinauf und durch einen lichten Buchenhain. Der Pfad zeichnete sich nun immer deutlicher ab. Ab und zu konnten sie Hufspuren erkennen, die jedoch schon viele Tage alt waren, so zumindest lautete Céredas’ Urteil, nachdem er abgestiegen war, um die Huftritte zu untersuchen. Die Gefährten lenkten ihre Pferde weiter in ein Tal hinab, folgten eine Weile einem Bach und umrundeten dann einen kleinen See, in dem sich viele Fische tummelten, deren Leiber in der Sonne blitzten.
    Die bewaldeten Talhänge traten nun eng zueinander. Wachsam sah sich der Jäger um. Im Schritt ritten sie durch den Hohlweg, der schon nach wenigen Minuten in eine weite, schüsselförmige Talmulde mündete. Im Norden und im Süden begrenzte dichter Eichenwald die Bucht, nach Westen jedoch wurden die Hänge steil und felsig, so dass nur noch kleine, kugelige Büsche in den Felsspalten Halt fanden.
    Tahâma zügelte ihre Stute und ließ den Blick voller Entzücken über sauber gepflegte Gemüsebeete und einen Fischweiher schweifen. Über den offensichtlich erst vor kurzem errichteten Palisadenzaun erhoben sich strohgedeckte Dächer. Harfenklänge schwebten über dem Talkessel. Wurgluck deutete auf einige frisch aufgeworfene Erdhügel unter den tief hängenden Eichenzweigen. Céredas nickte finster. Tahâma jedoch ließ sich vom Rücken ihres Pferdes gleiten und ging auf das geöffnete Tor zu.
    Zwei Gestalten mit schulterlangem, tiefblauem Haar traten ihr entgegen. »Unâg, Lûth«, rief sie und lief mit ausgestreckten Armen auf sie zu.
    Die beiden jungen Blauschopfmänner tauschten überraschte Blicke, dann eilten sie ihr entgegen. Sie beugten sich herab und berührten Tahâmas Hände mit der Stirn. »Tahâma! Wir hatten keine Hoffnung mehr, dass ihr den Weg zu uns finden könntet. Wo ist der Vater der Melodie? Ist er vom Elfenbeinturm zurückgekehrt?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Lasst uns hineingehen. Ich möchte die traurige Geschichte seines Todes nicht jedem einzeln berichten.«
    Sie winkte ihre Gefährten heran und stellte den Jäger aus dem Felsengebirge und den Erdgnom vor. Unâg begleitete die unerwarteten Gäste ins Dorf. Neugierig sahen sich die Freunde um. Es gab etliche ältere Häuser, alle nur ein Stockwerk hoch und mit Stroh gedeckt, an einigen Stellen waren jedoch auch neue Bauten errichtet worden. Ihre Wände waren weiß gekalkt und mit Blütenranken oder farbigen Mustern bemalt, die Dächer mit glatten, grau glänzenden Steinplatten belegt. Hier und da sahen sie auch verbrannte oder verfallene Hütten, an deren Abriss gearbeitet wurde. Zwischen den Häusern verliefen schmale Wege, manche schon mit weißem Kies bestreut, andere noch erdig braun. Die einzelnen Hütten standen so weit voneinander entfernt, dass noch genug Raum für kleine Gärten und Blütenbüsche blieb, und

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