Die Seele der Nacht
hin. Nichts regte sich auf dem Hügel. Die Hütte lag dunkel und still im matten Licht der Gestirne, die größtenteils von Wolken verdeckt waren.
Es musste gegen Mitternacht sein, als Tahâma nach Ceredas’ Arm griff. »Sie kommen«, flüsterte sie und fühlte, wie seine Muskeln unter ihren Fingern zuckten. Er nickte. Geräuschlos kroch sie noch ein Stück den Ast entlang, um besser sehen zu können.
Als Erstes entdeckte sie ein Rudel grauer Wölfe. Gemessenen Schrittes liefen die Tiere auf den Hügel zu und kreisten ihn ein, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben. Dann kamen die beiden großen schwarzen Wölfe, zwischen ihnen der Lord in Gestalt der riesigen roten Bestie. Die roten Augen durchforschten die Nacht, und Tahâma war es, als verharrten sie viel zu lange auf der Baumkrone, in der sie und ihre Gefährten sich verbargen. Endlich wandte er seinen Blick ab und schüttelte den glänzenden Pelz. Seine Umrisse verschwammen, ein Schatten umwirbelte ihn, während er sich langsam erhob. Da stand der Schattenlord in seinem schwarzen Umhang, ein Windhauch spielte in seinem langen, bleichen Haar.
Wieder huschte sein Blick zur Blutbuche. Tahâma zitterte. Sie umklammerte den Ast, auf dem sie saß, mit beiden Händen. Ihre Zähne schlugen aufeinander, und ihr war, als könne sie nie wieder lachen, nie wieder Glück empfinden.
Der Schattenlord erklomm mit fließenden Bewegungen den Hügel. Die beiden schwarzen Wölfe folgten ihm, die kleinen grauen aber blieben in einem Ring am Fuß des Hügels sitzen. Ohne Eile trat der Lord von Tarî-Grôth auf die Hütte zu. Tahâma konnte nicht sehen, ob er anklopfte, doch die Tür öffnete sich weit, kaum hatte er die Schwelle erreicht. Die Wolkendecke riss auf, und der volle rote Mond trat hervor. Der silberne verbarg heute sein Antlitz. Es war die Nacht des feurigen Rubus. Im Licht der Gestirne stand Aylana auf der Schwelle. Das offene Haar fiel ihr in sanften Wellen bis über die Hüfte, ihre nackte Haut schimmerte, die kalten Steinaugen waren weit geöffnet. Sie wich zurück und ließ den Schattenlord eintreten.
Nachher konnte Tahâma kaum mehr sagen, was in den folgenden Augenblicken geschah. Zu viele Gefühle stürzten auf sie ein, zu viele Ereignisse überschlugen sich. Sie wusste noch, dass sie vom Baum hinabklettern wollte. Céredas und Wurgluck versuchten sie aufzuhalten.
»Du kannst ihr nicht helfen!«, rief der Jäger.
»Doch! Ich werde nicht zulassen, dass er Aylana tötet«, gab Tahâma zurück und riss sich los.
Da hörte sie Wurglucks erstickte Worte: »Die grausamen Schatten kommen!«
Tahâma sah sie herankriechen und -schleichen, auf vier Beinen, zweien oder unendlich vielen. Die Wesen waren von solcher Scheußlichkeit, dass der Verstand sich wehrte zu begreifen und Worte sie nicht beschreiben konnten. In großen Gruppen wälzten sie sich eng zusammengedrängt über die Wiesen und durch den Wald auf den Hügel mit der Hütte zu.
Tahâma schüttelte die Hände ab, die sie zurückhalten wollten, glitt den Stamm hinunter und verbarg sich im Gebüsch. Sie wusste, dass sie keine Chance hatte, auch nur den Fuß des Hügels unbemerkt zu erreichen. So riss sie den Stab heraus, an dessen Spitze Krísodul funkelte. Sie begann zu singen. Der blaue Stein an der Spitze des Stabes strahlte, als sie auf den Hügel zurannte.
Ein vielstimmiges Heulen und Jaulen schallte durch die Nacht. Die grauen Wölfe blieben auf ihren Posten, aber die beiden schwarzen jagten auf Tahâma zu. Hinter ihr wogten die Sklaven des Lords heran. Nun erreichten die beiden Wölfe das Mädchen. Sie schwang ihren Stab. Die Tiere sahen sie aus ihren gelben Augen unverwandt an, wichen jedoch langsam zurück, als sie beherzt weiterging. Unter ihren Schritten knirschte der Kies vor der Hütte, ihre Hand griff nach dem Türknauf. Es graute ihr davor, hinter sich zu sehen.
Ein Schrei streifte ihr Ohr. Céredas! Nun fuhr sie doch herum und sah, dass auch er vom Baum geglitten war und brüllend mitten in die Masse der Unholde hineinstürzte. Sie sah sein ockerfarbenes Gesicht. Seine Augen schimmerten verzückt. Er hatte nicht einmal seine Axt vom Gürtel genommen. Die bloßen Hände erhoben, rannte er los und war Augenblicke später von den Schatten verschlungen.
Tahâma schrie auf. Neben ihr öffnete sich die Tür, der eisige Schatten hüllte sie ein. Sie konnte nichts mehr sehen, sie hörte nur noch ihre eigene Stimme, dann verstummte auch sie, und Tahâma fiel in tiefe Finsternis. Hart schlug
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