Die Seele des Feuers - 10
hoch.
»Oh.« Sie griff in die Tasche ihrer Schürze und errötete erneut, als ihre Hand suchend herumtastete.
Die Hand hielt inne. »Ich hab’s gefunden.«
»Was gefunden?«
Sie beugte sich näher und senkte die Stimme noch ein wenig mehr.
Zedd bemerkte, dass Franca, den Kopf über ein Buch gebeugt, sie von der anderen Seite des Tisches aus beobachtete.
»Eigentlich dürfen wir das hier überhaupt niemandem zeigen. Es ist äußerst wertvoll und selten.« Ihr Gesicht erglühte abermals tiefrot. »Aber Ihr seid ein außergewöhnlicher Mann, Ruben, so gebildet und alles, dass ich es aus den Gewölben hervorgeholt habe, um es Euch ganz kurz zu zeigen.«
»Das habt Ihr getan, Vedetta? Wie überaus freundlich von Euch. Um was handelt es sich denn?«
»Das weiß ich eigentlich gar nicht. Zumindest nicht genau. Aber es hat Joseph Ander persönlich gehört.«
»Tatsächlich«, meinte Zedd gedehnt.
Sie nickte ernst. »Dem Berg.«
»Wie?«
»Dem Berg. So haben ihn einige seiner Zeitgenossen damals genannt. Manchmal, wenn ich nichts zu tun habe, lese ich die alten Schriften aus jener Zeit – um mehr über unseren verehrten Ahnherren, Joseph Ander, zu erfahren. Einige nannten ihn damals vermutlich ›Berg‹.«
Zedd war aufs Äußerste gespannt, als er sah, wie sie ihre Hand aus der Schürze zog. Sie hielt einen kleinen Gegenstand darin. Seine Stimmung sank, weil er es für zu klein hielt, um ein Buch zu sein.
Doch dann schien sein Herz einen Schlag lang auszusetzen, als er sah, dass es sich tatsächlich um ein kleines, schwarzes Büchlein handelte. Ein Reisebuch.
Sogar der Stift steckte noch im Rücken.
Zedd benetzte sich die Lippen, als sie es ihm mit beiden Händen hinhielt. Er legte einen Finger an die Unterlippe. Offenbar hatte sie nicht die Absicht, ein so wertvolles Stück aus der Hand zu geben, da konnte er ein noch so gebildeter Gelehrter sein. Zwei bewaffnete Aufseher drüben neben der in die Gewölbe führenden Tür musterten die Besucher kritisch, ohne jedoch speziell auf Zedd zu achten.
»Dürfte ich vielleicht einen Blick hineinwerfen, Vedetta?«, fragte Zedd in angestrengtem Flüsterton.
»Na ja … schätze, es kann wohl nicht schaden.«
Vorsichtig schlug die Frau den Einband auf. Das Reisebuch befand sich in ursprünglichem Zustand, allerdings war das Buch, das Ann bei sich gehabt hatte, ebenso alt und ebenso gut erhalten. Reisebücher waren von Magie erfüllte Gegenstände, was vermutlich erklärte, warum sie nach jahrtausendelangem Gebrauch noch fast wie neu aussahen. Das sowie die Sorgfalt, mit der die Schwestern diese wertvollen Bücher behandelten. Die Menschen hier ließen nicht weniger Umsicht walten.
Zedd stockte der Atem.
Berg.
Jetzt begriff er. Des Berges Zwilling war das Gegenstück zu diesem Reisebuch. Alles nahm in seinem Kopf Gestalt an. Des Berges Zwilling war vernichtet worden, und mit ihm womöglich auch die Einteilung der Chimären.
Dieses Buch jedoch, Joseph Anders Reisebuch, würde exakt dieselben Worte enthalten – wenn sie nicht mit dem Stift gelöscht worden waren.
Wie gebannt verfolgte er, wie Vedetta Firkin die erste leere Seite umschlug. Ein dreitausend Jahre alter Zauberer war im Begriff, zu ihm zu sprechen.
Zedd starrte auf die Worte dort auf der folgenden Seite. Er konzentrierte sich, so gut es eben ging, dennoch ergaben die Worte keinen Sinn. Ein Bann, so fürchtete er, der verhindern sollte, dass jemand sie las.
Nein, daran lag es nicht. Außerdem war die Magie versiegt; ein solcher Bann hätte seine Wirkung längst verloren. Bei genauerem Hinsehen stellte er fest, dass die Schrift in einer ihm unbekannten Sprache abgefasst war.
Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Es war Hoch-D’Haran.
Zedds Mut sank. Mit Hoch-D’Haran war praktisch niemand mehr vertraut. Richard hatte ihm gegenüber behauptet, er habe es gelernt. Was Zedd keineswegs bezweifelte, nur war Richard unterwegs nach Aydindril. Zedd würde ihn niemals finden, geschweige denn einholen können.
Außerdem würden ihm die Leute hier in der Bibliothek wohl kaum erlauben, das Buch mitzunehmen, und Zedd verfügte über keine Magie, die daran etwas hätte ändern können.
»Was für eine Pracht, so etwas zu Gesicht zu bekommen«, meinte Zedd leise, während er zusah, wie die Frau langsam die Seiten vor seinen Augen umblätterte.
»Ja, nicht wahr«, erwiderte sie ehrfurchtsvoll. »Manchmal steige ich in das Gewölbe hinunter und sitze einfach nur da und sehe mir die Dinge an, die Joseph
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