Die Seele des Feuers - 10
Fleischscheiben auf dem Tisch im leeren Büro abzustellen. In den oberen Stockwerken des Westflügels, in dem sich auch die Küche befand, in der Snip arbeitete, waren eine Menge Beamtenbüros untergebracht.
Angeblich befanden sich die Büros des Ministers im dritten Stock. Den Geschichten zufolge, die Snip aufgeschnappt hatte, besaß der Minister eine ganze Flucht von Büros. Wieso er mehr als eines benötigte, vermochte Snip nicht zu erraten. Niemand hatte es ihm je erklärt.
Im ersten und zweiten Stock des Westflügels, hatte Snip erzählen hören, befand sich die reichhaltige anderische Bibliothek. Die Bibliothek war ein Hort der reichen und vorbildlichen Kultur des Landes und lockte Gelehrte und andere wichtige Persönlichkeiten auf das Anwesen. Die anderische Kultur bildete eine Quelle des Stolzes, um die alle sie beneideten, hatte man Snip beigebracht.
Der dritte Stock des Ostflügels beherbergte die Familiengemächer des Ministers. Seine Tochter, vielleicht ein, zwei Jahre jünger als Snip und unscheinbar bis zur Häßlichkeit, wie Snip hatte erzählen hören, hatte irgendeine Akademie besucht. Er hatte sie nur von weitem gesehen, fand die Beschreibung jedoch zutreffend. Manchmal unterhielten sich ältere Dienstboten tuschelnd über einen anderischen Posten, der in Ketten gelegt worden war, weil die Tochter des Ministers, Marcy oder Marcie, je nachdem, wer die Geschichte gerade erzählte, ihn irgendeines Vergehens bezichtigt hatte. Snip hatte unterschiedliche Versionen gehört, angefangen damit, er habe nichts weiter getan, als ruhig im Flur Wache zu stehen, bis hin zu Spionieren und sogar Vergewaltigung.
Stimmen hallten den Treppenschacht herauf. Den Fuß bereits auf der nächsten Stufe, hielt Snip inne und lauschte, jeden Muskel angespannt und ohne sich zu rühren. Während er bewegungslos verharrte, stellte sich heraus, daß unten im ersten Stock jemand durch den Flur ging. Die Leute kamen nicht herauf.
Glücklicherweise betrat die Frau des Ministers, Lady Hildemara Chanboor, nur selten den Westflügel, in dem Snip arbeitete. Lady Chanboor war eine Anderierin, vor der sogar andere Anderier zitterten. Sie war von üblem Charakter und mit nichts und niemandem zufrieden. Sie hatte Leute aus dem Personal entlassen, weil sie beim Vorübergehen im Flur zu ihr aufgesehen hatten.
Leute, die es wissen mußten, hatten Snip erzählt, Lady Chanboor habe ein Gesicht, das zu ihrem Charakter paßte: es war häßlich. Die unglücklichen Bediensteten, die Lady Chanboor beim Vorübergehen im Flur angesehen hatten, seien Bettler geworden, hieß es.
Von den Frauen in der Küche hörte Snip, Lady Chanboor lasse sich manchmal wochenlang nicht blicken, da der Minister aus diesem oder jenem Grund seiner Gattin überdrüssig sei und ihr ein blaues Auge verpaßt habe. Andere behaupteten, sie betrinke sich ganz einfach tagelang. Eine alte Hausangestellte berichtete hinter vorgehaltener Hand, von Zeit zu Zeit mache sie sich mit einem Liebhaber aus dem Staub.
Snip langte auf der obersten Stufe an. Die Flure im dritten Stock waren menschenleer, Sonnenlicht strömte durch die mit gazeartigen Spitzen verhangenen Fenster herein und fiel auf die blanken Holzdielen. Snip blieb auf dem Absatz am oberen Treppenende stehen. In seinem Rücken hatte er auf drei Seiten Türen, auf der vierten die Treppe. Er blickte die menschenleeren Flure entlang, die nach rechts und links abgingen, und wußte nicht, ob er es wagen sollte, sie zu betreten.
Alle möglichen Leute, von Boten bis hin zu Wachtposten, konnten ihn anhalten und fragen, was er hier zu suchen hatte. Was konnte er darauf antworten? Snip wollte nicht zum Bettler werden.
So wenig er die Arbeit mochte, hatte er doch gerne etwas zu essen; ständig schien er hungrig zu sein. Das Essen war nicht so gut wie das, was den wichtigen Personen bei Hofe oder den Gästen serviert wurde, aber es war passabel, und er bekam ausreichend. Und wenn niemand hinsah, konnten er und seine Freunde sogar Wein und Bier trinken. Nein, er wollte nicht hinausgeworfen und zum Bettler gemacht werden.
Vorsichtig machte er einen Schritt in die Mitte des Treppenabsatzes. Fast hätte sein Knie nachgegeben, und er hätte ums Haar aufgeschrien, als er auf etwas Spitzes trat. Dort, unter seinem Fuß, lag eine Anstecknadel mit spiralförmigem Ende, dieselbe Anstecknadel, mit der Beata den Ausschnitt ihres Kleides verschloß.
Snip hob sie auf, unschlüssig, was das bedeuten mochte. Er konnte sie mitnehmen und ihr
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