Die Seele des Königs (German Edition)
dachte sie, würdest du sicherlich die Wächter hinrichten lassen, wenn ich es ihnen sage, damit euer Geheimnis gewahrt bleibt . Sie mochte die Greifer nicht, aber das Reich mochte sie noch weniger, und die Wächter waren bloß eine andere Art von Sklaven. Shai wollte nicht die Verantwortung dafür tragen, dass Menschen grundlos getötet wurden.
» Ausgezeichnet«, sagte Gaotona. » Die zweite Versicherung, dass du deine ganze Aufmerksamkeit auf unser Projekt richtest, wartet draußen. Wärest du bitte so freundlich, Hauptmann?«
Tzu öffnete die Tür. Eine in einen Umhang gehüllte Gestalt stand bei den Wachen. Sie trat in den Raum; ihr Gang war geschmeidig, aber irgendwie unnatürlich. Nachdem Tzu die Tür wieder geschlossen hatte, setzte die Gestalt ihre Kapuze ab und enthüllte ein Gesicht mit milchig weißer Haut und roten Augen.
Shai stieß durch ihre zusammengebissenen Zähne einen leisen, zischenden Laut aus. » Und Ihr nennt das, was ich mache, ein Gräuel?«
Gaotona beachtete sie nicht, sondern stand von seinem Stuhl auf und sah den Neuankömmling an. » Sag es ihr.«
Der Neuankömmling legte die langen, weißen Finger gegen die Zimmertür und untersuchte sie eingehend. » Ich werde die Rune hier anbringen«, sagte er mit überdeutlicher Betonung. » Wenn sie den Raum aus irgendeinem Grund verlässt oder die Rune an der Tür verändert, werde ich es wissen. Und dann werden meine Tierchen nach ihr suchen.«
Shai zitterte und warf Gaotona einen bösen Blick zu. » Ein Blutsiegler. Ihr habt einen Blutsiegler in den Palast gelassen?«
» Dieser hier hat sich in letzter Zeit als sehr nützlich erwiesen«, erwiderte Gaotona. » Er ist treu ergeben und diskret. Und er ist sehr erfolgreich. Es gibt Zeiten, in denen man die Hilfe der Finsternis annehmen muss, um eine noch größere Finsternis abzuwehren.«
Sie zischte noch einmal leise, als der Blutsiegler etwas unter seiner Robe hervorholte. Es war ein grober Seelenstempel, hergestellt aus einem Knochen. Seine » Tierchen« würden ebenfalls aus Knochen bestehen – Fälschungen menschlichen Lebens, erschaffen aus den Skeletten der Toten.
Der Blutsiegler sah sie an.
Shai wich zurück. » Sicherlich erwartet Ihr nicht …«
Tzu packte sie an den Armen. Dunkle Nacht, war er stark! Sie geriet in Panik. Ihre Wesenspräger! Sie brauchte ihre Wesenspräger! Mit ihnen konnte sie kämpfen, flüchten, davonrennen …
Tzu fügte ihr einen Schnitt an der Rückseite ihres Armes zu. Sie spürte die oberflächliche Wunde kaum, aber sie wand sich trotzdem heftig. Der Blutsiegler trat auf sie zu und benetzte sein schreckliches Werkzeug mit Shais Blut. Dann drehte er sich um und drückte den Stempel in die Mitte der Zimmertür.
Als er seine Hand wieder entfernte, blieb ein glühend rotes Siegel im Holz zurück. Es hatte die Form eines Auges. In dem Moment, in dem er das Siegel anbrachte, verspürte Shai einen scharfen Schmerz dort im Arm, wo sich die Schnittwunde befand.
Sie keuchte und riss die Augen weit auf. Noch nie hatte jemand gewagt, ihr so etwas anzutun! Da wäre es fast besser gewesen, man hätte sie hingerichtet! Fast besser …
Beherrsche dich , sagte sie streng zu sich selbst. Werde zu jemandem, der damit umgehen kann .
Sie holte tief Luft und wurde zu jemand anderem. Zu einer Imitation ihrer selbst, die auch in einer solchen Situation ruhig blieb. Es war eine grobe Fälschung, nichts anderes als ein geistiges Kunststück, aber es half.
Sie schüttelte Tzu ab und ergriff das Taschentuch, das Gaotona ihr reichte. Sie sah den Blutsiegler böse an, während der Schmerz in ihrem Arm verblasste. Er lächelte sie an; seine Lippen waren weiß und ein wenig durchscheinend, wie die Haut einer Made. Er nickte Gaotona zu, bevor er wieder seine Kapuze aufsetzte, aus dem Zimmer trat und die Tür hinter sich schloss.
Shai zwang sich, gleichmäßig zu atmen und ruhiger zu werden. An dem, was der Blutsiegler getan hatte, war nichts Feinfühliges. Darauf legten diese Wesen keinen Wert. Statt Geschick und Kunstfertigkeit benutzten sie Trug und Blut. Doch ihr Handwerk besaß große Wirkungskraft. Nun würde der Mann wissen, wann sie den Raum verließ, und ihr frisches Blut klebte an seinem Stempel, der auf sie eingestellt war. Damit wären seine untoten Häscher in der Lage, sie jederzeit zu erjagen, wie schnell sie auch rennen mochte.
Gaotona nahm wieder auf seinem Stuhl Platz. » Du weißt, was passieren wird, wenn du fliehst?«
Shai sah Gaotona finster an.
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