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Die Seele des Ozeans (German Edition)

Die Seele des Ozeans (German Edition)

Titel: Die Seele des Ozeans (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauss
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als läge ihr viel an diesem Spaziergang, zweitens würde es ihm morgen vermutlich noch mieserabler gehen. Wiedersehen würden sie sich erst in sechs Monaten, und wer wusste schon, was bis dahin geschah.
    Plötzlich gefror Kjells Herz. Er hätte es eine Ahnung genannt, ein düsteres Omen, aber an solchen Unsinn glaubte er nicht. Niemand blickte in die Zukunft. Niemand konnte sagen, was der nächste Tag brachte. Er atmete tief durch und blickte nach links, wo sich hinter den Klippen das spiegelglatte Meer erstreckte, so schrecklich endlos, dass ihm ganz elend zumute wurde. Weit draußen lag eine Nebelbank, die das Mondlicht reflektierte. Vermutlich würde sie im Laufe der Nacht die Küste einhüllen, und am Morgen, wenn er schwimmen ging, würde alles noch viel unwirklicher sein als jetzt. Dieser Ort mit all seinen alten Steinen, Kreuzen und Ruinen war eine Zwischenwelt, die weder im Hier noch im Dort lag.
    An diesem Abend liefen sie lang. Länger als je zuvor.
    Als das verfallene Haus vor ihnen auftauchte, waren seine Beine unter der dünnen Jeans taub geworden. Doch kalt war ihm noch immer nicht. Weiße Atemwolken strömten aus Kjells Mund, das eisüberzogene Gras knirschte unter seinen Schritten. Vielleicht war seine Haut inzwischen von einer Frostschicht überzogen, silberweiß wie die des Meerwesens.
    „Sag mir, wenn du etwas spürst.“ Fae führte ihn geradewegs auf die Ruine zu. Trostlos stand sie auf einem Hügel, die Klippen und die See zu Füßen. „Oder wenn du dich nicht wohlfühlst.“
    Wohl war ihm tatsächlich nicht, aber darüber deckte er den Mantel des Schweigens. Was erwartete sie von ihm? Dass ihn Visionen überfielen? Dass er sich an irgendetwas erinnerte?
    Was für ein Quatsch.
    „Ich bin schon oft hier gewesen.“ Er sprach leise, aber seine Worte hallten laut durch die totenstille Nacht. „Ich habe nie etwas gespürt.“
    „Damals warst du noch ein Kind.“ Fae schob ihn durch den Eingang des Hauses. Die Tür war schon längst der Fäulnis zum Opfer gefallen und lag zersplittert im Gras. „Keine Angst. Geh allein weiter. Denk an nichts. Wenn etwas kommen sollte, dann kommt es von ganz allein.“
    Kjell seufzte und tat ihr den Gefallen, obwohl er sich unglaublich dämlich dabei vorkam. Es war einfacher, Faes Absonderlichkeiten auf ihre Künstlerseele zu schieben, als den Gedanken in Betracht zu ziehen, dass sie langsam, aber sicher senil wurde. Dieses Haus hatte sie also inspiriert. Gut und schön. Es war nur noch ein vermodernder Haufen aus Steinen und Holz, aber auf morbide Weise faszinierend. Die Treppe, von der im Buch die Rede gewesen war, existierte nicht mehr. Aber er konnte einen Tisch erkennen, dessen Platte in zwei Hälften gespalten war und dessen abgebrochene Beine wie die eines toten Tieres in die Höhe ragten. Kjell fühlte nichts. Nur eine hoffnungslose Traurigkeit, die dieser Ort auszuatmen schien.
    Alles Lebendige war nichts weiter als Fäulnis.
    Unabänderlich strebte alles auf seine Auslöschung zu.
    Wie ein Scherenschnitt stand die gebrechliche Gestalt seiner Mutter im Eingang des Hauses. Wut übermannte Kjell. An all dem konnte er nichts ändern. Das Leben rann wie Sand durch seine Finger, ließ das Äußere verfaulen und das Innere jung bleiben. Er musste seine Mutter gehen lassen, er musste seine Jugend gehen lassen. Und was blieb am Ende?
    Nur bleiche Fotos und Erinnerungen.
    Kjell strich sich das wirre Haar aus der Stirn. Was machte er hier überhaupt? Dieses verdammte Haus löste nichts in ihm aus, abgesehen davon, dass es ihn frustrierte.
    „Tut mir leid.“ Die Hände in die Taschen seiner Jeans vergraben, stellte er sich an die Seite seiner Mutter.
    „Ich habe gar nichts gesehen oder gespürt.“
    „Wirklich gar nichts? Du siehst traurig aus.“
    Er brummte unwillig. Fae legte eine Hand auf seine Wange und lächelte. „Du bist genauso schön wie dein Vater, weißt du das?“
    Kjell spürte, wie seine Wangen brannten. „Ach, hör auf damit.“
    „Aber es ist so. Hat dir das noch keine Frau gesagt?“
    „Nicht direkt. Es sei denn, du zählst die beiden Studentinnen dazu, die mir kommentarlos die Zunge in den Hals gesteckt haben.“
    Fae wiegte nachdenklich den Kopf. „Das ist wohl die moderne Art, jemandem zu sagen, dass man ihn hübsch findet. Komm, mein Junge. Mir kriecht die Kälte in die Knochen, und du hast da noch ein Buch, das zu Ende gelesen werden will.“
    Ja, das Buch. Diese absonderliche Lektüre. Einerseits wollte er nichts mehr damit zu tun

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