Die Seele des Ozeans
ließ ihren Atem stocken. Entschlossen zwang Fae ihre Lungen zu einem Atemzug. Dann noch einen, und noch einen, bis ihr Körper widerspenstig gehorchte. Mit kräftigen Zügen schwamm sie weiter, als könnte sie vor ihrem Schicksal flüchten. Sie wollte nicht sterben. Es war eine unumstößliche, höhnische Tatsache, die ihr in Momenten wie diesen einer Natter gleich in den Nacken biss, um mit genüsslichen Bewegungen das Gift noch tiefer in die Wunden zu treiben.
„Es ist okay“, hatte sie erst heute Morgen zu Alexander gesagt. „Ich habe keine Angst. Das ist eben mein Schicksal.“
Was nützte es, sich zu sträuben? Ihr Lebenshunger war dem Universum gleichgültig. Die Uhr tickte.
Tick tack, tick tack.
Der Zeiger rückte auf Mitternacht zu. Und danach? Begann dann einfach ein neuer Tag? Ein schöner Gedanke, jedenfalls für alle, die nicht jede Minute damit rechnen mussten, die Wahrheit herauszufinden.
Fae kämpfte gegen die Strömung an. Das Wasser griff nach ihrem Körper, wollte sie hinausziehen in die Dunkelheit. Eine Metapher für das, was in ihrem Gehirn heranwuchs und schleichend alles Leben in sich aufsaugte. Da vorne war der Felsen, den sie als Zielmarke nahm. Sie lachte dem Tod ins Gesicht und kraulte darauf zu. Immer gieriger zog das Meer an ihr.
Hol mich doch. Komm schon. Hol mich!
Wellen brandeten gegen die Klippen, spien Gischt in den finsteren Himmel hinauf. Fauchende Böen wühlten das Meer bis in die Tiefe auf und verschluckten die Rufe, die vom Strand herhallten.
Fae kompensierte ihre Wut mit noch kräftigeren Schwimmzügen. Unter ihr gähnte die schwarze Tiefe. Als sie den Felsen erreichte und ihn umschwamm, spürte sie die Macht der offenen See. Ab hier klafften die unauslotbaren Abgründe auf. Die dunklen Tiefen, in denen der Mensch nichts verloren hatte.
Das Lagerfeuer, Henry, Ukulele und Alexander schienen unerreichbar fern zu sein. Schemenhaft wie eine Fata Morgana, die jede Hoffnung auf Zuflucht verspottete. Fae glaubte, es nicht mehr an den Strand zurückzuschaffen. Und doch tat sie es.
Als sie wenige Minuten später auf den Sand kroch und von ihrem Bruder auf die Füße gezerrt wurde, fühlte sie sich unwirklich und elend.
„Ich hasse es, wenn du das tust.“ Alexander hob beide Hände und tat, als würge er ein unsichtbares Wesen. „Ich könnte dich umbringen. Jag mir nicht immer solche Angst ein.“
Fae schnaufte. „Was meinst du, wie ich es hasse.“
„Tu das nicht noch einmal!“
Sie schloss die Augen, als Alexander sie auf seine Arme hob und hinauf zum Wagen trug. „Es spielt doch sowieso keine Rolle mehr.“
„Und ob es das tut“, hörte sie ihn leise zischen. „Nicht für dich vielleicht, aber für mich.“
Seit sie hier wohnten, zündeten sie jeden Abend den Kamin an, füllten eine Thermoskanne mit Kakao und machten es sich auf den bunt zusammengewürfelten Sofas und Sesseln bequem. So auch heute. Nicht ein Möbelstück hatten sie dazu gekauft, stattdessen waren sie komplett in das abgelegte Leben einer Familie geschlüpft, die vor Jahren weggezogen war. Es fühlte sich in keiner Weise störend an.
Das Haus hatte ihnen auf den ersten Blick gefallen. Es war urig und gemütlich, mit viel Holz, Katzenhaaren an allen möglichen und unmöglichen Stellen, unverputzten Wänden, alten Möbeln und moosgrünen Vorhängen. Überall hingen Ölgemälde von Segelschiffen, die gläserne Platte des Sofatisches ruhte auf einer goldenen Meerjungfrau und in den Schränken lagen verstaubte Bücher, die zwar allesamt nicht Faes Geschmack entsprachen, aber in der Art, wie sie da aufgestapelt herumlagen, dem Haus einen intellektuellen Charme verliehen.
Die Bewohner waren wohl überstürzt weggezogen, oder sie hatten einen Schlussstrich unter ihr Leben ziehen wollen. Fae meinte zu spüren, wie froh das Haus über ihre Gesellschaft war. Zu schade, dass es bald wieder verwaist sein würde.
Während sie sich an ihrer Kakaotasse festhielt, den Kopf an Alexanders Schulter gelehnt, nahm Henry ein Buch zur Hand und blätterte darin herum. Keltische Sagen und Legenden .
Jeden Abend las er ihnen daraus vor.
Fae grinste. Dieser Kerl war ohnehin ein komischer Kauz, aber in seinem grün-gelb karierten Flanellschlafanzug war er zum Schreien. Henrys schwarze Haare erinnerten an das Kehlgefieder eines Kolkraben, und seine hervorquellenden, hellgrauen Augen verliehen ihm einen Ausdruck permanenter Verblüffung. Geistesabwesend nahm sie eine von Alexan-ders Dreadlocks und zwirbelte sie um
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