Die Seelen im Feuer: Historischer Roman (German Edition)
und trat ins Freie. Die Nacht war dunkel und wolkenverhangen, und ein unangenehm kalter Wind wehte durch die Gassen, wie so oft, wenn die Zeit der Schafskälte da war. Die beiden Männer huschten möglichst lautlos an den Wänden der Häuser entlang und mieden die wenigen Fenster, aus denen noch Licht schien. In der Langen Gasse kläffte sie ein Hund an, und sie beeilten sich, weiterzukommen. Endlich hatten sie das Ziel ihres nächtlichen Ausflugs erreicht: Das Haus von Johannes Junius. Auf das verabredete Klopfzeichen hin wurde ihnen die Seitenpforte aufgetan, die direkt in die private Schreibstube des Bürgermeisters führte.
In dem abgedunkelten Zimmer warteten bereits mehrere Männer, die mit ernsten Gesichtern auf Stühlen und Hockern um den quadratischen Arbeitstisch saßen. Ein paar Kerzen brannten und tauchten die Versammlung in flackerndes Licht. Cornelius kannte alle, die hier zusammengekommen waren. Einige waren vom Rat – die wenigen, die noch von seiner ursprünglichen Besetzung übrig waren, dazu zwei oder drei Nachrücker. Außerdem Abdias Wolff, der Bierbrauer Georg Hagelstein, die beiden Neffen des hingerichteten Peter Fürst, und Junius selber.
»Ihr seid die Letzten«, meinte der Bürgermeister. »Dann lasst uns anfangen.«
Cornelius suchte sich einen Platz auf einer großen Truhe, während Kircher sich zu Abdias Wolff auf ein Bänkchen quetschte. Dann ergriff Heinrich Flock als Erster das Wort. Seine Miene war finster. »Ihr Herren, wir haben dieses Treffen für notwendig gehalten, weil sich die Gangart der Prozesse in den letzten Wochen verschärft hat. Wir wissen inzwischen mit Sicherheit, dass seit etlicher Zeit neue Foltermethoden im Malefizhaus zusätzlich zu den alten angewendet werden, und zwar, wie es scheint, auf allerhöchsten Befehl. Wir wissen vom Brennen der Haut mit Federn, die in Schwefel getaucht wurden, und von ganzen Bädern in Kalkwasser.«
»Bestialisch«, murmelte der Apotheker, der wusste, welch entsetzliche Verletzungen Säure auf menschlicher Haut bewirken konnte. Auch Cornelius schüttelte fassungslos den Kopf.
»Erst letzte Woche ist einer der Unglücklichen nach einem solchen Bad elend gestorben«, fuhr Flock fort. »Pater Kircher hat außerdem bei einer seiner Beichten von einem ›gefältelten Stüblein‹, erfahren. Das ist anscheinend ein winziger Raum, dessen Boden aus im Zickzack aneinandergelegten Bohlen besteht. Die Leute werden hineingesteckt und können dort drin weder stehen noch sitzen noch liegen. Erst nach Tagen kommen sie wieder heraus und sind dann vor Schmerzen ganz von Sinnen. Überdies hat man etliche Verhaftete gezwungen, stark versalzenen Heringsbrei zu essen, und ihnen dann nichts zu trinken gegeben. Sie werden verrückt vor Durst und erzählen für einen Schluck Wasser alles, was man von ihnen hören will. Sechs neue Brände haben allein seit Ostern draußen vor dem Langgasser Tor stattgefunden. Und für den kommenden Sonntag hat Förner wieder eine seiner Hetzpredigten angekündigt … «
»Wir haben lange geschwiegen, aus Angst um uns und unsere Familien«, übernahm Junius das Wort. »Dennoch ist einer nach dem anderen vom Rat ins Feuer geschickt worden. Ich bin der einzige der alten Bürgermeister, der noch übrig ist, die anderen sind alle tot und wurden ersetzt. Die Neuen lässt man noch ungeschoren, aber es fragt sich, wie lange noch. Es ist auffällig, dass gerade die Familien der Reichen bis zur Wurzel hin ausgerottet werden, damit das Erbe in die Malefizkasse fließt. Heute habe ich erfahren, dass die Letzte von der Familie des Bürgermeisters Neudecker in der Haft gestorben ist. Man hat ihre Leiche gestern Abend beim Schwarzen Kreuz verscharrt. Jetzt ist auch hier der Weg frei, die Hinterlassenschaft einzuziehen.«
Die anwesenden Männer machten betroffene Gesichter, auch Cornelius. Er hatte die Magdalena Neudecker gut gekannt, sie war eine Freundin seiner Mutter gewesen.
Johannes Junius fuhr fort. »Seht Euch um in der Stadt: Der Niedergang ist augenscheinlich. Wie viele Geschäfte und Werkstätten stehen leer, wie viele Häuser? Denkt nur an die Lange Gasse, einst die schönste Straße der Stadt! Die beiden Häuser von Georg Hagelstein, das von Hans Fleischmann, das von unserem Freund Alexander Wildenberger. Das schöne neue Haus der Moorhaupts, von Valtin Schmidt, von Pankratz Schwarzmann, das der Zieglerin, der Familie Deltschner, das von Hans Kauer, von Hans Roth, von Peter Fürst – alle vernagelt und brach. Die halbe
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