Die Seelen im Feuer: Historischer Roman (German Edition)
Vernunft und Nüchternheit war auch Junius wie alle Beschuldigten geprägt von seiner Zeit. Er war ein tief gläubiger Christ und überzeugt von dem, was die Kirche predigte. Je länger er in seiner finsteren Zelle hockte, desto größer wurden seine Zweifel und seine Unsicherheit. Natürlich war er kein Zauberer. Hatte niemals den Teufel gesehen, geschweige denn mit ihm paktiert. Natürlich war dies alles nur der Versuch der Obrigkeit, ihn zu zerstören, loszuwerden, zu töten. Er war ein politischer Gegner, ein unliebsamer Konkurrent um die Macht in der Stadt. Doch mit den unendlich langsam dahinfließenden Stunden ging diese Überzeugung dahin. Die Haft tat etwas mit ihm, veränderte sein Denken, machte ihn mürbe, ließ ihn nicht mehr klar sehen. Wilde, furchtbare Träume plagten ihn, aus denen er schweißgebadet erwachte. Dann wieder ließen ihn die Schreie oder das jämmerliche Stöhnen aus den Nachbarzellen nächtelang nicht schlafen. Er fiel in einen Zustand, in dem er nichts mehr wusste, nichts mehr hätte beschwören oder abstreiten können. Er heulte, er fluchte, er tobte, er biss die Zähne zusammen, er betete und flehte. Nichts, was er je geglaubt hatte, galt mehr innerhalb der feuchten Mauern dieses Hexenhauses.
War er denn unschuldig? In seinen schlimmsten Stunden nagte diese Frage unaufhörlich an ihm, ließ ihn nicht mehr zur Ruhe kommen. Viele hatten ihn besagt, das wusste er aus den ersten gütlichen Verhören. Wie konnte es sein, dass alle, alle logen, nur er selber nicht? War es nicht vielleicht möglich, dass der Satan ihn im Schlaf verführt hatte, oder in einem Zustand, in dem sein Bewusstsein nicht klar war? Dass er dem Teufel nachgegeben hatte, ohne sich im Wachzustand daran erinnern zu können? Schließlich hatten schon Hexen ausgesagt, dass sie in gewissen Nächten auf den Blocksberg geflogen waren, um dort ihre schrecklichen Rituale zu pflegen, während ihre Männer Stein und Bein schworen, dass ihre Körper die ganze Zeit mit ihnen im Ehebett gelegen hatten! Gab es eine Abspaltung der teuflischen Existenz von seiner anderen, normalen, alltäglichen Person? Eine Art Doppelleben in einer anderen Sphäre, von dem er nichts wusste? Lug und Trug, Täuschung und Irreführung, das waren schließlich die Waffen Luzifers. Jedes Kind lernte das von klein auf.
In seiner Verzweiflung hatte Junius Kircher um Rat gebeten, doch auch der Jesuit konnte in dieser Frage nicht weiterhelfen. Die Theologie ließ dies alles möglich erscheinen, eröffnete keinen Ausweg. Ja, es gab hochgebildete Experten unter den gelehrten Kirchenleuten, die konstatierten, dass es womöglich zur Taktik des Teufels gehörte, die Erinnerung der Hexen an ihre Untaten auszulöschen. Das war ja logisch, denn so konnten die Druden wissentlich nichts zugeben und also schwerer überführt werden. Junius wurde fast wahnsinnig bei dem Gedanken, dass vielleicht er selber zu dieser Art Unholden gehören könnte.
Und wenn es denn so war? Und wenn er, Junius, trotzdem nicht zugab, ein Hexer zu sein, eben weil es ihm gar nicht bewusst war? Dann, so sagte Kircher in seiner ehrlichen Art und nach reiflichem Überlegen, nähme der Bürgermeister das Risiko auf sich, womöglich unter der Folter zu sterben, ohne sein Gewissen erleichtert zu haben. Seine Seele wäre für immer verloren.
Aber, so fragte Junius dann, wenn ich wirklich unschuldig wäre und gäbe unter der Folter das Gegenteil zu, was würde dann aus meiner Seele? Kircher blieb keine andere Antwort übrig als die, dass er dann ebenso verdammt wäre. Denn damit hätte er Gott verleugnet und ebenso die ewige Seligkeit verwirkt.
Junius erkannte: Wie er es drehte und wendete, der Weg ins Paradies war ihm genommen. Wer einmal besagt und verhaftet war, dem blieb nichts mehr, nicht das Diesseits und nicht das Jenseits. Nur die Hölle. Diese furchtbare Gewissheit stürzte ihn in tiefste Verzweiflung, so unerträglich, dass er nach Wegen suchte, sich umzubringen. Denn der von der Kirche verdammte Selbstmord konnte ihn auch nicht mehr kosten als das ewige Leben, und das war ihm ohnehin nicht mehr vergönnt.
Dann wiederum hatte er bessere Tage, an denen er beschloss, zu kämpfen. Er war unschuldig, Opfer eines Komplotts. Er legte sich im Kopf Verteidigungsreden zurecht, Argumente, kluge Sätze, die er so lange wiederholte, bis er sie auswendig konnte. Er führte laute Gespräche mit seinen Widersachern, stritt mit ihnen, beschimpfte sie. Das hielt an bis zum nächsten Zusammenbruch, der
Weitere Kostenlose Bücher