Die Seelen im Feuer: Historischer Roman (German Edition)
die Bevölkerung der Stadt verdoppelt. Ganze Viertel waren entstanden, mit dem typischen Gewirr an Gässchen und Gassen und bunten Anhäufungen von Wohnhäusern auf den Ruinen der Kaiserzeit. Kirchenbauten wuchsen in die Höhe, herrliche neuerbaute Brunnen schmückten die Plätze. Die ganze Stadt schien ein gemeinsames Produkt von Architekten, Bildhauern und Malern zu sein, eine Komposition von außergewöhnlicher Harmonie, ein unerreicht großartiges Gesamtwerk. Es war die ideale Kulisse für die unzähligen Prozessionen und religiösen Feste, die hier stattfanden. Eine würdige Heimat für das Oberhaupt der Christenheit.
Kircher war den ganzen Tag ziellos durch die Straßen geritten, immer nur schauend und staunend. Er kam sich vor wie ein winziger Fisch in einem riesigen Schwarm, ein Teilchen in der unüberschaubaren Menge an Pilgern, die sich täglich durch die Hauptstraßen der Papststadt bewegte. Er war umringt von Menschen aller Länder, jungen und alten, Männern, Frauen und Kindern, zu Fuß und zu Pferde, in Kutschen und auf Wagen. Je weiter es ins Stadtinnere ging, desto größer wurde das Gewimmel und Gedränge. Die Menschen schrien in allen möglichen Sprachen durcheinander, Esel blökten, Pferde wieherten, besonders fromme Peregrine sangen Kirchenlieder oder beteten laut. Dazwischen priesen Andenkenverkäufer ihre Ware an, geweihte Bildchen und Amulette, Weihwasserfläschchen und billigen Tand. Taschendiebe und Gauner, Huren und Beutelschneider suchten nach Opfern. Der Jesuit tastete nach der dicken Ledertasche, die er hinter den Sattel gebunden hatte. Ja, es war noch da, das wertvolle Manuskript des Friedrich Spee, dessentwegen er nach Rom gekommen war. Erst jetzt wurde ihm der Zweck seiner Reise wieder bewusst. Fast schämte er sich, dass er sich von den Schönheiten Roms so sehr hatte hinreißen lassen.
Er entdeckte einen Mann in der schwarzen Kutte der Gesellschaft Jesu und lenkte sein Reittier dorthin. »Salve«, grüßte er ihn und fragte auf Lateinisch nach dem Weg zur Poenitentiarie ad Sanctum Petrum, dem Jesuitenkolleg. Der Mitbruder, ein weißhaariger älterer Herr mit feinen Gesichtszügen und scharfer Adlernase, erwies sich als überaus hilfsbereit und freundlich. Er griff dem Gaul in die Backenriemen und führte Kircher höchstpersönlich zur Poenitentiarie, wo er auch noch dafür sorgte, dass der Gast aus Deutschland gute Aufnahme fand.
Man wies Kircher ein einfaches kleines Eckzimmer unter dem Dach zu, wie es die Studenten des Kollegs bewohnten. Von den beiden Fenstern aus offenbarte sich ihm ein überwältigender Blick auf die Dächer Roms im Licht der untergehenden Sonne: Neben altehrwürdigen, grün überwucherten Ruinen aus antiker Zeit erhoben sich mittelalterliche Türme und Mauern, grandiose Paläste und Kollegiengebäude, eindrucksvolle hohe Häuser und Kirchen. Kircher erkannte das ovale Mauerwerk des Kolosseums, aus dem ganze Bäume wuchsen, zumindest dort, wo man nicht die riesigen Travertinblöcke abbaute, seit der Papst das Bauwerk als Steinbruch freigegeben hatte. Er sah die Reste des Forums, die silberglitzernde Tiberschleife, die Dächer, Türme und Kuppeln von San Giovanni in Laterano, San Andrea del Valle, Santa Susanna, Santi Domenico e Sisto. Dazwischen lagen aber auch elende Quartiere, denen man selbst von weitem die Armut ansah. Der Anblick der Stadt wurde gekrönt von einer Vielzahl an luftigen Barockkuppeln, die wie dicke runde Pilze über der Masse der Dächer aufragten. Sie alle wurden beherrscht von der grandiosen Peterskuppel, die durch ihre Schönheit und ungeheure Größe gleichsam in den Himmel gehoben wurde.
Kircher, von Müdigkeit und neuen Eindrücken überwältigt, schob das Manuskript, seinen kostbarsten Besitz, unter das niedrige Bett, und fiel alsbald in einen tiefen, zufriedenen Schlaf.
Am nächsten Morgen machte er sich auf die Suche nach dem Sekretär des Generalvikars, der ihm allerdings erst in fünf Tagen einen Termin versprechen konnte. So dringend die Sache auch sein möge, erklärte der junge Mann, aber Bruder Vitelleschi sei ein vielbeschäftigter Mann, und es sei ohnehin ein großer Vorzug, nach so kurzer Zeit schon empfangen zu werden. Kircher fügte sich. Er sprach derweil mit diesem und jenem Ordensbruder, erörterte die Lage und sammelte Informationen. Demnach gab es in Rom mehrere Institutionen – außer dem Papst selbst –, an die er sich möglicherweise in der Hexensache wenden konnte. Da war zum einen die »Sacra Rota
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