Die Seelen im Feuer: Historischer Roman (German Edition)
der letzten dreihundert Jahre konnte sich die westliche Zivilisation einigermaßen von diesem Anschauungsmuster lösen, und die Unvollkommenheit dieses geistigen Emanzipationsprozesses ist unschwer an den gefüllten Kassen von Wahrsagern, Geistheilern und Okkultisten abzulesen.
Der Glaube an Hexerei ist so alt wie die Menschheit selbst. Dafür spricht schon seine weite Verbreitung: Bis auf ganz wenige Ausnahmen findet man ihn in den verschiedensten Gesellschaftsformen und Kulturkreisen überall auf der Welt. Historiker stimmen überein, dass seine Ursprünge bis in prähistorische Zeiten zurückreichen. So kommt es, dass bis ins späte Mittelalter hinein der Glaube an Hexen in Europa wohl ähnlich dem war, was man heute noch bei manchen Naturvölkern vorfindet. Er präsentierte sich als verstümmeltes Überbleibsel eines vorchristlichen Religionskultes, der primär mit Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit, Krankheit und Gesundheit, Naturphänomenen wie Hagel und Gewitter zu tun hat – genau die Bereiche also, in denen die Hexe nach damaliger Auffassung hauptsächlich aktiv wurde.
Zunächst wurde der Hexenglaube bis ins 13. Jahrhundert hinein von der Kirche offiziell als Aberglaube abgetan, hervorgerufen durch an heidnischem Gedankengut ausgerichteten Phantastereien. Im ca. 906 von Regino von Prüm veröffentlichten »Canon Episcopi« (der jahrhundertelang Geltung hatte und später mühevoll umgedeutelt werden musste) wird die Existenz von Hexen ausdrücklich negiert und solcher Glaube als Häresie gewertet – fünfhundert Jahre später sollte genau das Gegenteil der Fall sein: Ketzer war, wer die Existenz von Hexen bestritt. Diese Entwicklung von Einsicht, Vernunft und Toleranz des frühen Mittelalters hin zum blutigen Fanatismus der Inquisition gehört zu den deprimierendsten Erkenntnissen der Geschichte und passt so gar nicht ins Konzept derer, die ein allzu fortschrittsgläubiges Weltbild kultivieren.
Die Entwicklung eines akuten Hexenwahns, basierend auf viel älteren Glaubensmustern, war symptomatisch für die rapiden und fundamentalen Veränderungen in der Gesellschaft Europas beim Übergang vom mittelalterlichen Feudalismus zu den unsicheren, flexibleren sozialen Organisationsformen der Neuzeit. Die Reformation erschütterte die christliche Kirche bis in ihre Grundfesten. In dieser Periode des institutionellen und religiösen Umbruchs wurde der alte Hexenglaube in die neuen politischen und religiösen Belange der Zeit verwickelt. Man begann, die Begriffe »Hexe« und »Ketzer« gleichzusetzen; essenziell war dabei die Vorstellung, der/die Betreffende habe einen Kontrakt mit dem Satan abgeschlossen. Während in anderen Kulturen Hexen immer nur das Böse im Allgemeinen personifizieren, tun Hexen dies im christlichen Kulturkreis auf ganz spezielle Weise, nämlich als irdische Repräsentanten des Teufels. Der Hexenglaube erhielt seit Thomas von Aquin, einem der Kirchenväter, seinen Platz in der christlichen Weltdeutung. Und durch die Bulle »Vox in Rama« 1233 und die berühmte »Hexenbulle« des Papstes Innozenz VIII. wurde der Übergang vom Hexenglauben zum Hexenwahn dogmatisch von höchster kirchlicher Stelle gerechtfertigt. Er wurde zum institutionalisierten Machtinstrument und zur wirksamsten Waffe der Kirche. Es kam zur systematisch durchgeführten Massenverfolgung.
Es muss auf den ersten Blick überraschend wirken, dass der Hexenwahn seinen Höhepunkt nicht etwa wie erwartet im Mittelalter, sondern erst in der angehenden Neuzeit fand, gerade in dem Jahrhundert, das die meisten grundlegenden Ideen der modernen Wissenschaft hervorgebracht hat. In das Zeitalter von Galilei und Newton, Descartes und Bacon, Hobbes und Locke, eine Periode der wissenschaftlichen Revolution, scheint der Glaube an Hexen und allerlei seltsame Geister und Dämonen nicht zu passen. Doch wir vergessen, dass selbst die hellsten Köpfe der Zeit sich noch nicht von diesen alten Denkmustern gelöst hatten. Wir vergessen, dass auch Sir Isaac Newton sich häufiger mit okkulten Fragen beschäftigte als mit physikalischen Fragen. Hexerei wurde anerkannt von Bibel, Kirche, Philosophie, Medizin, den Naturwissenschaften und der Jurisprudenz. Die gesamte Intelligenz des 17. Jahrhunderts war davon überzeugt, dass es eine unsichtbare Welt mit Geistern und Dämonen und selbstverständlich auch mit Hexen gab. Man war im Volk also nur allzu bereit, unglückliche Zufälle, Krankheit, Tod, Verluste an Hab und Gut, Missernten und Schlechtwetter
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