Die Seelen im Feuer: Historischer Roman (German Edition)
Pogromen. Glücklich nannten sie Amsterdam das »Jerusalem des Westens«. Auch für sie ist die Stadt eine Zuflucht, dachte Johanna.
Mit großen Augen wanderte sie neben ihrem kleinen Bruder durch die Straßen, entlang an Kanälen, über steile Brücken. Sie bewunderte die eindrucksvollen Fassaden der Gildehäuser, die schmucken Giebel, über denen die Möwen und allerlei andere Seevögel dahinflogen und ihre grellen Schreie nach unten schickten.
Auf dem Dam herrschte reges Treiben. Hier standen das prächtige Rathaus, die Nieuwe Kerk mit ihrem ovalen Grundriss und die Alte Waage, es war der Hauptplatz der Stadt. Von hier aus führte der breite Damrak zum Ij, die letzte Verbindung des Flusses Amstel mit der Zuidersee. Auf dem Wasser tummelten sich zahllose kleinere Schiffe und Kähne.
Toni erklärte seiner Schwester alles, schließlich war er von Anfang an in der Stadt unterwegs gewesen und kannte sich schon gut aus. Dabei ließ er ihr nicht viel Zeit, sich umzusehen, denn sein Ziel war ein anderes: Er wollte zum Hafen. Heute wurde die Ankunft eines großen Handelsseglers erwartet, und das musste er unbedingt miterleben. Also zog er Johanna weiter durch die Straßen und Gassen, über baumbewachsene Plätze und an Grachten entlang bis dorthin, wo das Singel, die äußerste westliche Schleusengracht der Stadt, in den Hafen mündete. Hier lag die Haarlemer Schleuse, nach deren Passieren die großen Handelsschiffe im ruhigen Wasser anlegen konnten.
Johanna blieb überwältigt stehen. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie von der Schleuse aus das Meer! Toni erzählte ihr zwar sofort altklug, dies sei nicht das richtige Meer, sondern nur die Ijsselsee, die erst viel weiter im Osten ins offene Meer mündete, aber Johanna war trotzdem wie berauscht. Kleine Schaumkrönchen tanzten auf dem grauen Wasser, das in unregelmäßigen Wellen gegen die Kaimauer schwappte. Wie weit der Himmel über der See war! Die Wolken hingen niedrig, schwer vom Regen, der noch nicht kommen wollte. Möwen schossen umher, schwammen im Wasser, stolzierten auf dem Hafenpflaster herum und suchten nach Futter. Und wie es roch: Nach Salz und Fisch, Teer und Holz, nach Ferne und Abenteuer! Der raue Wind hatte aufgefrischt und trug winzig kleine Salzwassertröpfchen mit sich, die Johannas Wangen netzten. Und auf einmal spürte sie es, wie eine Welle, die sie überschwemmte: Sie war frei. Da war keine Angst mehr, keine Beklemmung. Sie fühlte sich jung, voller Neugier, voller Tatendrang, wollte alles wissen, alles sehen, alles haben. Mit einem Juchzer breitete sie die Arme aus und ließ sich von einer Bö anblasen, lachte dem Wind ins Gesicht.
Dann kam das Schiff. Ein riesiger Dreimaster, tief im Wasser wegen seiner schweren Ladung. Johanna dachte an die kleinen Bamberger Regnitzschelchen, die ihr früher groß erschienen waren, und musste angesichts dieses Ungetüms den Kopf schütteln. Selbst Toni, der schon viele Frachter beim An- und Ablegen beobachtet hatte, staunte. Zusammen mit der Menschenmenge, die sich inzwischen angesammelt hatte, sahen die beiden dem komplizierten Schleusenmanöver zu, das über eine Stunde dauerte, bis endlich das Handelsschiff ein Stück unterhalb in der Gracht anlegen konnte. Weil Toni Hunger hatte, kauften sie sich Heringsbrötchen und Käsestullen, und Johanna war, als habe sie nie so etwas Köstliches gegessen. Sie fragte sich, wo das Schiff wohl herkam, und malte sich die fernen Länder aus, die es schon gesehen hatte. Die Insel Java mit ihrer von den Niederländern gegründeten Hafenstadt Batavia. Ceylon. Indien. Sumatra. Surinam. Neu Amsterdam in Amerika, überhaupt die Neue Welt! Ein überwältigendes Fernweh kam über sie, eine nie gekannte Sehnsucht.
»Hoppla, Mefrouw!« Ein Seemann, der gerade das dicke Ende eines Taus um einen Poller wickelte, hatte sie aus Versehen angerempelt.
»Wo kommt das Schiff her?«, fragte sie.
»Molukken.«
»Und was hat es geladen?«
»Gewürze und Walfett.«
Und schon wurden die ersten Säcke, Holztonnen, Kisten und Körbe ausgeladen. Ein Teil der Ware wurde über Ladeplanken an Land getragen, wo schon die Ochsenkarren warteten. Doch das meiste ging über Kräne auf kleinere Frachtkähne, die längsseits am Schiff angelegt hatten. Wenn sie voll waren, wurden sie von kräftigen Pferden in die Prinsengracht getreidelt, um später vor irgendwelchen Kaufmanns- oder Lagerhäusern festzumachen. Von deren vorspringenden Giebeln wurden dann die Lasthaken heruntergelassen, um die
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