Die Seelenkriegerin: Roman (German Edition)
ansteckend. Auch damit haben sie recht. Wenn die Erste Translatio so etwas wie eine übernatürliche Gesamtinfektion ist, könnte es dann nicht auch kleinere Infektionsherde geben, deren Wesen wir noch nicht erkennen? Ein Mensch ist viel besser beraten, ganz ohne Magie zu leben, als einen Ikata in seine Seele zu lassen. Alles in allem ist dieser Glaube vielleicht doch nicht so töricht, wie wir ihn darstellen.«
Er schloss kurz die Augen. Es hätte noch mehr zu sagen, andere Wahrheiten zu offenbaren gegeben, aber er wollte nicht zu viel preisgeben. Manche Geheimnisse behielt man besser für sich.
Wie genau erinnerte er sich überhaupt an diese Geheimnisse? Über die Jahrhunderte hatte er sich selbst in falsche Erinnerungen eingesponnen, damit jeder, der mit Magie in seiner Vergangenheit herumstocherte, nur Lügen fände. Doch das hatte seinen Preis. Wer die eigene Identität unter so vielen Schichten vergrub, der vergaß leicht, welche Teile davon echt waren. Nun verlangte das Schicksal, dass er all die falschen Erinnerungen abschälte wie die Häute einer Zwiebel. Würde er das, was ganz innen lag, überhaupt noch erkennen?
Zu viele Fragen. Zu viele Emotionen, die auf Ereignisse zurückgingen, über die er nicht sprechen wollte. Er konnte es sich nicht leisten, sich anderen Magistern in diesem Zustand zu zeigen.
»Ihr kennt nun die Wahrheit«, schloss er knapp. »Teilt sie mit den anderen, soweit ihr es für angebracht haltet. Oder erspart ihnen die schreckliche Offenbarung und lasst sie in Unwissenheit verharren. Was das Bessere ist?« Er breitete die Arme aus. »Entscheidet selbst. Ich habe meinen Beitrag geleistet.«
Er wandte sich zum Gehen.
»Colivar.« Das war Ramirus.
Colivar drehte sich nur so weit um, dass er ihm in die Augen sehen konnte.
»Der Verräter. Der erste Magister. Wie konnte er den Heiligen Zorn überwinden?«
Colivar zog scharf die Luft ein und wollte schon die Antwort verweigern. Doch wenn er die Frage jetzt abwehrte, würde sie später wieder hochkommen, so viel stand fest. Lieber brachte er es gleich hinter sich.
»Im Innersten des Heiligen Zorns wohnt der Tod«, erklärte er. »Deshalb flößt er allen Lebewesen, die sich ihm nahen, auf jener Ebene des Unterbewusstseins, wo der Überlebensinstinkt Triumphe feiert, Todesangst ein. Die Ikati sind reine Instinktwesen, und deshalb haben sie dem nichts entgegenzusetzen. Der menschliche Intellekt ist widerstandsfähiger, doch auch wir werden von Instinkten geleitet, und es fällt uns ebenso schwer, uns dem Heiligen Zorn zu nähern, wie über den Rand einer Klippe zu springen. Der Geist mag die Notwendigkeit anerkennen, aber die Seele begehrt dagegen auf.
Wenn ein Mensch jedoch sterben will … wenn er bereit ist, den Tod mit jeder Faser seines Seins willkommen zu heißen, ihm Leib und Seele darzubieten, damit er sie verschlinge, wenn der Gedanke an seine eigene Vernichtung Glücksgefühle in ihm auslöst … dann hat der Heilige Zorn keine Macht über ihn. Nicht die geringste.«
Einer seiner Mundwinkel zuckte leicht. »Ich würde dir nicht raten, es auszuprobieren, Ramirus. Aber lass mich wissen, wenn du den Versuch doch unternehmen willst.«
Damit wandte er dem Kreis der Magister den Rücken zu und strebte rasch, um weiteren Fragen zuvorzukommen, zurück in die Schatten.
Sogar für die Verhältnisse des Nordens war es hier oben kalt und windig. Doch Colivar war nicht in der Stimmung, daran etwas zu ändern.
Ein Stück unterhalb des Gipfels zog sich ein flaches, breites Sims an der Felswand entlang. Colivar kletterte hinab und bezog dort Posten. Der Wind wehte ihm die lange Robe um die Beine, und die Wangen brannten ihm in der eisigen Kälte, aber das kam seiner Stimmung entgegen, und er tat nichts, um die Elemente zu beruhigen.
Etliche Meter über ihm regte sich etwas in den Schatten. Ein Schneeluchs verließ sein Versteck zwischen den Felsen und steuerte auf ihn zu. Kaum hatte er das Granitband erreicht, als auch schon die ersten Wellen der Magie durch seinen Körper gingen und die Verwandlung einsetzte. Das Skelett richtete sich auf, die Pfoten wurden zu Händen, das Fell zur Haut. Bald stand Kamala vor ihm, ihr rotes Haar wehte im Wind. Die letzten Sonnenstrahlen umgaben sie mit einem goldenen Glorienschein und ließen sie eher wie einen Berggeist aussehen denn wie eine Frau aus Fleisch und Blut. Seltsam, wie gut das zu ihr passte.
»Du hast alles gehört?«, fragte er.
»Ja.« Sie nickte ernst. »Danke für die
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