Die Seelenkriegerin: Roman (German Edition)
deshalb haben die Ikati überlebt?«, fragte Sula. Es klang ungläubig. »Weil die Jäger sie verschonten?«
Colivar nickte mit ernster Miene. »Die Versuchung ist eine heimtückische Bestie, die den Menschen schrittweise auffrisst. Er wacht nicht eines Morgens auf und denkt bei sich: Heute verrate ich die Welt. Seine Seele wird Stück für Stück verdorben, tausend Federn der Hoffnung, der Angst und des Zweifels lassen sich nacheinander auf ihm nieder … bis ein Gewicht zusammenkommt, von dem das Gewissen erdrückt wird. Und eines Tages stellt dieses Gewissen fest, dass es keine Stimme mehr hat und nur noch die Versuchung geblieben ist.
So war es bei jenen Hexen und Hexern.
Irgendwann lernten sie tatsächlich, auf das Athra der Ikati zuzugreifen, aber der Preis war erschreckend hoch. Denn wenn sich ein Mensch der Lebensessenz eines Seelenfressers öffnet, nimmt er auch etwas von dessen Seele in sich auf. Als sie das erkannten, war es zu spät. Die rein animalische Kraft des Ikati-Geistes, der von erschreckend primitiven Trieben nur so strotzte, war … berauschend. Sie machte süchtig. Wenn ein Mensch einmal davon gekostet hatte, wollte er mehr. Und je mehr er sich darauf einließ, desto mehr Macht gewann die Bestie über ihn.«
Er blickte kurz auf seine Hände nieder und zuckte verlegen die Achseln. »Wie gesagt, sie waren schwach. Paare entstanden, Menschen und Ikati, in einer unnatürlichen Lebensgemeinschaft verbunden. Menschliches Denken und tierische Instinkte verschmolzen miteinander, der Seelenfresser wurde mehr, als er gewesen war, der Mensch dagegen weniger.« Er schaute auf. »Das ist nämlich das Besondere an diesen Paaren. Es sind nicht länger zwei Individuen, aber es ist auch kein Einzelwesen, sondern etwas dazwischen. Zu vernünftigem Denken fähig wie ein Mensch, doch zugleich getrieben von den schwärzesten tierischen Instinkten. Und im Lauf der Jahrhunderte haben die Ikati notgedrungen gelernt, unter einem Himmel voller Asche zu überleben und Zeiten der ewigen Nacht zu überdauern. Was sie einst am meisten fürchteten, hat keine Macht mehr über sie. Auch die stärksten Waffen unserer Vorfahren sind stumpf geworden.« Seine Miene war grimmig. »Wir haben nichts mehr.«
»Die junge Frau, deren Erinnerungen ich beschwor«, sagte Ramirus. »Sie schrie so schrecklich, als der Seelenfresser starb. War sie auf diese Weise an ihn gebunden?«
Colivar nickte. »Der Tod eines Partners kann den Geist des Überlebenden zerstören, wenn die Bindung lange genug bestanden hat. Die gemeinsame Seele wird durch das Erlebnis buchstäblich entzweigerissen. Für den Menschen ist das schon schlimm genug, aber für den Seelenfresser …« Er schüttelte den Kopf. »Durch die Trennung wird er von einem erkenntnisfähigen Wesen auf einen Schlag zu einem dumpfen Tier.« Er sah Ramirus an. »Du hast es miterlebt.«
»Vor Dantons Palast.«
»Ja.«
Fadir verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn man den einen zerstören kann, indem man den anderen tötet … das könnte nützlich sein.«
Colivar zuckte zusammen. Überlege dir gut, was du an Wissen preisgibst , warnte er sich selbst. Aber Ramirus hatte recht. Sie mussten verstehen, was die Ikati waren. Sie mussten verstehen, was sie selbst waren. Es war an der Zeit dafür.
»Es gab einen Hexer, dessen Ikati-Konjunkt getötet wurde«, fuhr Colivar fort. »Der jähe Verlust der Hälfte seiner Seele war mehr, als er ertragen konnte, mehr als irgendein Mensch ertragen konnte. Er verlor den Verstand. Und in seinem Wahnsinn gelang ihm, was niemand für möglich gehalten hatte. Er überquerte den Heiligen Zorn und kehrte in die Südlande zurück. Rasend vor Trauer, ausgehungert nach Athra, suchte er mit aller Kraft nach einem Weg, von der Lebensessenz anderer zu zehren, ohne von seinem Seelenfresser unterstützt zu werden …«
Er sah, wie Verständnis in ihren Augen aufdämmerte, als einer um den anderen erkannte, wohin seine Geschichte steuerte. Wahrhaftig eine düstere, schreckliche Offenbarung. Ihre Überraschung bereitete ihm ein abartiges Vergnügen.
»Er wurde der erste Magister«, verkündete er. »Unser Stammvater, das Samenkorn all unserer Macht. Er glaubte, sein Seelenfresser sei vollends aus seinem Bewusstsein geschnitten worden, doch dem war nicht so. Einmal verschmolzen, können Mensch und Ikata nie wieder ganz getrennt werden. Ein Funken der Ikati-Essenz blieb in diesem Mann erhalten, und irgendwann lernte er, davon Gebrauch zu machen und sich auf
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