Die Seelenkriegerin: Roman (German Edition)
Hier, wo die Sonne bis zum Boden schien, hatte ein einzelner Schössling Wurzeln geschlagen. Gwynofar ging darauf zu und blieb davor stehen. Eigentlich müsste sie jetzt wissen, wo sie war, aber sie konnte dem Ort noch immer keinen Namen geben.
Doch dann begann sich der Schössling zu verwandeln. Er zog zusätzliche Substanz aus der Luft, hüllte sich in Farben, die allein aus der Rinde nicht hätten entstehen können, und nahm langsam die Gestalt eines Kindes an. Eines sehr kleinen Kindes, dessen Züge ihr quälend vertraut waren. Wenig später erkannte sie auch, warum, und eine Flut der Trauer überschwemmte ihr Herz.
»Anrhys«, flüsterte sie. Sie hatte inzwischen mit einem Teil ihres Denkens erfasst, dass sie sich in einem Traum befand, aber einem anderen – dem größeren – Teil war das gleichgültig. Als ihr totes Kind vor ihr erschien, fiel sie auf die Knie, und Tränen der Trauer und des Schmerzes liefen ihr über die Wangen. Der echte Anrhys hatte nie die Luft des Waldes auf seinem Gesicht oder das leise Knirschen der Kiefernnadeln unter seinen Füßen gespürt. Sie hatte ihn noch in ihrem Schoß getötet, hatte ihn für eine Sache geopfert, die er nie gekannt hatte. Selbst der Baum, der über seiner Asche gepflanzt worden war – der Baum, der jetzt vor ihr stand –, würde niemals seine wahren Züge tragen, sondern lediglich ein Gesicht nach den Vorstellungen einer Hexe, wie er hätte aussehen können, hätte er lange genug gelebt, um zum Mann zu werden. Schuldbewusstsein erfasste sie, so gewaltig, dass es ein ganzes Heer von Seelen hätte verschlingen können. Sie wollte nach ihm greifen und ihn umarmen, wollte ihr Gesicht in seinem hellblonden Haar vergraben – das dem ihren so ähnlich war! – und weinen, weinen, weinen, bis die schreckliche Schuld aus ihrer Seele fortgespült wäre. Sie wollte ihm sagen, wie leid – wie leid! – es ihr tat, und um ein Zeichen von ihm flehen, dass er ihr verziehen habe. Irgendetwas, das wenigstens einen Hauch von Vergebung erkennen ließe.
Doch sie kam nicht an ihn heran. Sie wagte es nicht. Wie gebannt war sie von seinem Anblick und fürchtete, wenn sie ihn berührte – wenn sie auf irgendeine Weise versuchte, ihn real zu machen –, würde der Traum verblassen, und sie hätte ihn abermals verloren.
Stattdessen streckte er ihr die Hände entgegen. Sie begriff nicht sofort, dass er ihr etwas reichen wollte, dass er erwartete, sie würde vortreten und es ihm abnehmen. Doch dann sah sie auf jeder Handfläche einen kleinen schwarzen Kristall, natürlich gewachsen, mit unregelmäßigen Facetten, die bei jeder Bewegung im Sonnenlicht farbig aufblitzten. Beide Kristalle waren nach Größe und Form ähnlich, wenn auch nicht vollkommen gleich, und sie hatte den Eindruck, sie gehörten irgendwie zusammen. Und sie gehörten zu ihr.
Nimm sie. Er sprach die Worte nicht laut aus, sie hörte sie trotzdem. Du wirst sie brauchen.
Langsam und zögernd erhob sie sich und ging auf ihn zu. Es war eine Qual, ihrem verlorenen Kind so nahe zu sein und es nicht in die Arme nehmen zu können! Doch sie wagte nicht, ihn anzufassen, aus Angst, vollends in der Flut der Gefühle zu ertrinken, die sie schon jetzt fast überwältigte. Sie streckte ihm ihrerseits die Arme entgegen; doch anstatt ihm die Kristalle direkt abzunehmen, hielt sie die gewölbten Hände unter die seinen und wartete. Er zögerte, dann nickte er, drehte seine Hände und ließ ein Steinchen in die Mitte jeder Handfläche fallen. Die Steine fühlten sich seltsam warm an, als wären sie lebendig, und sie pulsierten wie unter dem Schlag eines unsichtbaren Herzens.
Ich vertraue dir die Jahrhunderte an , kamen unausgesprochen die Worte. Hüte sie gut.
Die Kristalle begannen sich zu verändern. Die säulenförmigen Auswüchse zogen sich in das Grundgestein zurück, bis sie nur noch zwei glatt schwarze, nahezu halbkugelige Steine in den Fingern hielt. Diese fingen nun an zu schmelzen, und bald standen zwei zähflüssige rote Pfützen in ihren holen Händen. Blut. Sie zitterte, als es zwischen ihren Fingern hindurchsickerte und wie roter Regen auf den Boden plätscherte. Bei den ersten Tropfen spürte sie ein Beben unter den Füßen, als wäre tief unter ihr ein schlafendes Tier … oder gar die Erde selbst zum Leben erwacht.
Starr vor Staunen beobachtete sie, wie sich das Blut auf dem Boden ausbreitete und endlich den Fuß eines Baumes erreichte, der in der Nähe stand. Die Wurzeln saugten erschauernd das kostbare
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