Die Seelenkriegerin: Roman (German Edition)
Nass auf, und die schmalen Nadeln veränderten nacheinander ihre Farbe, bis der ganze Baum tiefrot geworden war. Andere Bäume folgten, sobald sie von dem Blut getrunken hatten, und nach wenigen Minuten war ein ganzer Blutwald entstanden. Dann veränderte der erste Baum seine Form. Die Äste rollten sich ein, die Knorren im Stamm verschwanden. Die Rinde, die das Ahnengesicht bedeckt hatte, wurde glatt und hell wie menschliche Haut, und die Augen glänzten feucht, als schauten sie mit wachem Bewusstsein in die Welt …
Ein Mann stand vor ihr. Seine Kleidung war altertümlich und an mehreren Stellen zerrissen. Ein tiefer Schnitt zog sich, glänzend von frischem Blut, quer über sein Gesicht; seine Tunika war mit Schlamm bespritzt. Ein zweiter Mann erschien neben ihm. Ein dritter. Die vierte Gestalt war eine Frau; sie trug Männerkleidung, ihr langes Haar war zerzaust und verfilzt, und sie blutete aus einer Kopfwunde. Immer neue Gestalten kamen dazu, bis Gwynofar von einem ganzen Heer aus blutbefleckten Kriegern umringt war. Sie hatte genügend Bilder über den Großen Krieg gesehen, um den Stil ihrer Rüstungen zu erkennen, und als ihr nun klar wurde, wer diese Gestalten sein mussten, stockte ihr der Atem.
Es waren die Männer und Frauen, die beim ersten Mal gegen die Seelenfresser gekämpft hatten. Die Märtyrer der Lyr . Ihre Vorfahren.
Sie wollte fragen, warum man sie hierher gerufen hatte, was sie von ihr wollten … doch bevor ihr die Worte über die Lippen kamen, löste sich die gesamte Szene schlagartig auf. Nebel umwirbelte die Füße der Krieger, ihre Körper begannen zu zerfließen, und die Farbe ihrer Kleidung verteilte sich in Wellen und Wirbeln in der Luft, bis nichts mehr übrig war. Verzweifelt sah sich Gwynofar nach ihrem Sohn um, doch Anrhys war längst verschwunden. Sie hatte ihn zum zweiten Mal verloren! Ein gequältes Wimmern kam über ihre Lippen, als die letzten Reste der Traumlandschaft ihren Blicken entschwanden.
Zum Schluss lag alles im Nebel, genau wie zu Beginn, eine gewaltige weiße Stille, lediglich unterbrochen vom Plätschern des Blutes, das ihr von den Händen tropfte, und von ihrem ungleichmäßig traurigen Herzschlag.
Gwynofar lag auf einem Bett mit seidenen Laken, das dünne Leinenhemd klebte ihr, von kaltem Schweiß durchtränkt, am Körper, und sie hatte Mühe, sich zurechtzufinden. Im Mondschein, der durch die schmalen Fenster fiel, sah sie die Stickereien auf dem Baldachin über sich, doch der Stoff selbst blieb im Schatten, sodass ein geisterhaftes Federmuster entstand, das traumartig im Nichts zu schweben schien. Auf dieses Muster richtete sie den Blick, während sie versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. War sie schon wach? Wenn ja, dann musste sie den seltsamen Traum möglichst sofort deuten, solange die Erinnerung daran noch frisch war. Wenn sie wieder einschlief, wären viele Einzelheiten vergessen.
Ich vertraue dir die Jahrhunderte an , hatte Anrhys gesagt.
Wie sollte sie das verstehen? Und was sollten die Kristalle darstellen, die er ihr gegeben hatte?
Die Augen der Seelenfresser waren wie schwarze Kristalle. Sie erinnerte sich, wie ihr die Königin des Nordens in die Augen gesehen hatte und wie diese schrecklichen Kugeln ihr fast die Seele ausgesaugt hätten. Aber sie glaubte nicht, dass dieser Traum auf die Seelenfresser Bezug genommen hatte. Nein, hier ging es um etwas Persönlicheres, etwas, das den Heerscharen der Lyr Kraft und Heilung bringen sollte. Nicht um etwas, das ihnen schadete.
Unwillkürlich wölbte sie die Hände und glaubte für einen Moment, Anrhys wieder vor sich stehen zu sehen. Reglos. Schweigend. Sie spürte das warme, klebrige Blut auf ihren Fingern, und schon brach die Trauer von Neuem über sie herein, genauso stark wie damals, als sie erkannt hatte, was der Preis für ihre Alkal-Mission sein würde, welches Opfer von ihr verlangt würde, um den Thron der Tränen zum Leben zu erwecken. Sie fühlte sich in den Turm zurückversetzt und erlebte noch einmal die Angst jenes schrecklichen Tages, die Kälte der Verzweiflung in ihrer Seele.
Und dann kam ihr die Erleuchtung. Und sie verstand.
Zunächst lag sie ganz still da, und ihr Herz schlug so hart, dass der schwere Rahmen des Bettes zu erzittern schien. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie konnte kaum denken. Anrhys hatte sie verlassen – noch einmal! –, aber sie wusste jetzt, warum er zu ihr gekommen war.
Jäh fasste sie einen Entschluss, stand auf, griff nach dem Morgenmantel,
Weitere Kostenlose Bücher