Die Seelenkriegerin: Roman (German Edition)
über den Boden hüpfen und nahm sich die nächste vor. Und die nächste. Vier Klauen mussten entfernt werden, bevor der Kristall sich lockern ließ, und zwei weitere, bevor sie ihn vollends herausziehen konnte.
Völlig außer Atem setzte sie sich auf die Fersen zurück und starrte das Ding in ihren Händen an. Es hatte die Form einer Halbkugel, genau wie die Kristalle in ihrem Traum. Der flache Teil war unregelmäßig und trug Spuren eines scharfen Werkzeugs.
»Was ist das?«, fragte ihr Vater. Und trat an ihre Seite, um besser sehen zu können.
»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. Der Kristall lag warm in ihrer Hand und schien unter namenlosen Energien zu vibrieren, die sie nicht zu deuten vermochte. »Wir brauchen einen Seher. Jemanden mit Lyr -Blut, wenn möglich.«
Er nickte knapp und ging hinaus, um jemanden zu rufen. Gwynofar beschäftigte sich damit, den anderen Kristall aus seinem Bett zu befreien. Diesmal half ihr Ramirus, indem er den Sessel so verkeilte, dass er sich nicht mitbewegte, als sie die Klauen herauszog. Ihr fiel auf, dass er nicht gefragt hatte, warum sie einen Seher verlangt hatte, anstatt sich seiner Hilfe zu bedienen. Und das war gut so, denn sie hätte ihm nicht antworten können. Sie folgte bloß noch ihren Instinkten und vertraute darauf, dass die Götter sie leiteten.
Als Keirdwyn mit einem Seher zurückkam, hatte Gwynofar auch den zweiten Kristall aus seiner Verankerung gelöst. Wie beim ersten gab es Spuren, die darauf hinwiesen, dass er von einem größeren Stück abgeschlagen worden war. Mit angehaltenem Atem legte sie die beiden Teile aneinander und stellte fest, dass sie perfekt passten. Zwei Hälften eines Ganzen. Aber wofür war es zu verwenden?
Sie wandte sich der Seherin zu – einer jungen Frau, die man offensichtlich aus dem Bett geholt hatte – und hielt ihr die Kristallkugel hin. Die Seherin nahm sie in beide Hände, drehte sie, ohne die beiden Hälften voneinander zu trennen, hin und her und betrachtete sie genau. Mit Ausnahme einer Stelle, wo ein langer, dünner Splitter fehlte – vermutlich hatte man dort so etwas wie einen Meißel angesetzt –, war die Kugelform perfekt. Bei jeder Bewegung blitzten die Facetten im Kerzenschein auf, sodass es aussah, als wäre die Kugel lebendig.
Als die Seherin glaubte, allein durch äußere Betrachtung keine weiteren Erkenntnisse mehr gewinnen zu können, legte sie die Hände um den Kristall, schloss die Augen und stimmte einen leisen Singsang an. Gwynofar flüsterte ein Dankgebet für das Opfer an Lebenszeit und sah, dass ihr Vater das Gleiche tat. Nur Ramirus sah gleichmütig zu, unbeeindruckt von derartigen Gefühlen. Als Magister konnte er mit dem Begriff des Opfers wenig anfangen.
»So viele Seelen«, murmelte die Seherin mit immer noch geschlossenen Augen. »Jede einzelne zum Opfer dargebracht. So viel Tod! Blut und Asche und Tränen ergießen sich in die Opferschale, bis sie überfließt. Niemals allein. Niemals allein. Widmet den anderen unsere Gebete. Bindet unsere Seelen an sie. Verankert uns mit der Erde, bis die letzte Schlacht geschlagen ist …«
Die Seherin verstummte. Gwynofar glaubte zu sehen, wie sie erschauerte und wie ihre Hände die Kristallkugel fester umfassten. Dann blickte sie langsam zu ihnen auf. Ihre Augen, noch vor wenigen Minuten klar und kühl, waren nun von der Anstrengung des magischen Werks blutunterlaufen. Welche Geheimnisse dieses Ding auch enthalten mochte, es hatte sie nicht ohne Widerstand preisgegeben.
»Es ist ein Anker.« Ihre Stimme sank zu einem scheuen Flüstern herab. »Die Menschen, die daran hingen, sind längst nicht mehr am Leben, auch ihr Geist ist verweht, aber ihre Resonanz ist noch zu spüren.« Sie schüttelte überwältigt den Kopf. »So viele Menschen! Es wäre unmöglich, sie alle mit Namen zu nennen. Diese Sphäre …« Gwynofar drehte sie in der Hand hin und her; dabei verschoben sich die Teile, und zwischen den beiden Hälften erschien ein schmaler Spalt. »Sie wurde aus ihrem Fleisch geschaffen. Ihrem Blut. Gesammelt von Männern und Frauen, die im Kampf gefallen waren, aufgeopfert von jenen, die wussten, dass sie sterben würden … jeder Tropfen Blut war ein Anker zu seinem Besitzer … es waren so viele …« Sie verstummte ergriffen.
»Das ist die Essenz unseres Volkes«, sagte Lord Keirdwyn andächtig, »eingeschlossen zum Schutz vor dem Zahn der Zeit.«
»Die Wirkung des Throns geht ohne Zweifel darauf zurück«, meldete sich auch Ramirus zu Wort.
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