Die Seelenkriegerin: Roman (German Edition)
Zweig auf. Er suchte etwas, das er einen »Anker« nannte. Besonders ausgiebig beschäftigte er sich mit der Stelle, wo Hedda der Fremden das Essen hingelegt hatte. Nicht weit davon hatte der Fährtenleser später einen unvollständigen Fußabdruck gefunden und gemeint, der könnte von ihr stammen. Doch nachdem der Hexer den Platz minuten lang schweigend betrachtet hatte, schüttelte er enttäuscht den Kopf und ging weiter. Wonach suchte er denn eigentlich? Als der Fährtenleser mit seinen Hunden über diese Wiese gegangen war, hatte Hedda verstanden, was er vorhatte. Vielleicht haftete noch ein Geruch an der Erde. Abgebrochene Zweige oder aufgewühlter Lehm mochten zeigen, wo die junge Frau – ob menschlich oder nicht – mit dem Kind in den Armen gegangen war. Aber diese scheinbar ziellose Suche, dieser Tanz der Unwissenheit … sie wurde nicht klug daraus, sosehr sie sich auch bemühte. Sie konnte nur zutiefst unglücklich zusehen, sich an Dura drücken und im Stillen zu ihren Göttern beten. Gebt mir mein Kind zurück , flehte sie, und ich tue alles, was ihr von mir verlangt. Ihr könnt sogar mein Leben haben, wenn ihr es wollt. Nur bringt mir meinen Sohn wohlbehalten wieder.
Als der Hexer endlich zu ihnen zurückkehrte, ging es schon auf den Abend zu, und die Konturen der Landschaft begannen zu zerfließen. Ein Blick in sein Gesicht genügte Hedda, um zu wissen, wie die Antwort ausfallen würde. Ihr Herz, das seit dem Verschwinden ihres Sohnes hartnäckig an der Hoffnung festgehalten hatte, ließ nun endlich und unwiderruflich los und stürzte hinab in den Abgrund unendlicher Verzweiflung.
»Es tut mir leid«, sagte der Hexer leise. Mehr nicht.
»Nichts?« Duras Stimme klang dumpf und trostlos wie in einer leeren Höhle. »Überhaupt nichts?«
Der Hexer schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen brauchbaren Anker. Ich habe Spuren einer weiblichen Präsenz gefunden, die zu dem Mädchen gehören könnten, von dem ihr mir erzählt habt, oder auch nicht, aber sie sind zu schwach, um meine Hexenkräfte darauf richten zu können.«
»Vielleicht sind nicht die Spuren zu schwach«, grollte Dura, »sondern der Hexer.«
Der Junge errötete. »Wenn du jemand Besseren auf die Suche schicken willst, kannst du es gerne versuchen.«
»Mein Mann hat es nicht so gemeint«, schaltete Hedda sich ein. Sie hatte den Schmerz in Duras Stimme gehört und wusste, dass er blindlings um sich schlug, um seiner Verzweiflung Luft zu machen; später würde ihm seine grausame Bemerkung leidtun. Der junge Hexer hatte immerhin einen Teil seiner eigenen Lebensenergie geopfert, um ihnen zu helfen. »Wir sind beide halb wahnsinnig vor Sorge. Das wirst du doch sicher verstehen.«
Der Junge nickte steif. Natürlich hatte es keinen Einfluss auf sein Honorar, dass er keine brauchbaren Erkenntnisse hatte gewinnen können – ein Hexer wurde für die Lebensenergie bezahlt, die er opferte, nicht für die Qualität seiner Ergebnisse –, aber er schien aufrichtig bekümmert zu sein, weil er nicht hatte helfen können.
Was wurde jetzt von ihr erwartet? , fragte sich Hedda. Sollte sie einen schwarzen Schleier anlegen und um ihren Sohn trauern, als wüsste sie mit Sicherheit, dass er tot war? Auch wenn er womöglich noch am Leben war und sich in der Gewalt einer verrückten Landstreicherin befand? Was in aller Welt hatte das Mädchen mit ihm vor? Sie konnte es sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, und das machte sie ganz krank.
»Es gibt noch andere.« Der Hexer sprach leise.
»Andere?«, fragte Dura.
»Andere Kinder, die verschwunden sind.«
Hedda blinzelte. »Du meinst … wie bei mir?«
»Genaueres weiß ich nicht. Es sind nur Gerüchte, die unter den Hexen und Hexern verbreitet werden. Jedenfalls habe ich gehört, dass eine ganze Reihe von kleinen Kindern gestohlen wurde, aus Dörfern überall in der Gegend. Man hat ein paar Mal Hexen und Hexer beauftragt, nach ihnen zu suchen – so habe ich davon gehört –, aber niemand hat den kleinsten brauchbaren Hinweis entdeckt. Und was an Spuren gefunden wurde, führte ins Nichts. Genau wie hier.« Er deutete auf die umliegenden Wälder. »Nachdem ich es selbst erlebt habe, schenke ich den Geschichten mehr Glauben.«
»Haben die anderen … die Eltern … war ein fremdes Mädchen beteiligt?«
Er schüttelte den Kopf. »Soweit ich weiß, bist du die Einzige, die jemals von einer solchen Begegnung berichtet hat. Die anderen Kinder sind einfach verschwunden, als gerade niemand hinsah. Eben waren
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