Die Seelenquelle
einen Pfad zwischen zwei Steinen entlangging: Sie machte ihre ersten Schritte, um Cosimo Livingstone zu finden.
DREIUNDDREISSIGSTES KAPITEL
D ie Glastüren von Charles Flinders-Petries Arbeitszimmer waren zum Garten hin geöffnet und die Gardinen zurückgezogen, damit frische Luft in den Raum hineinkommen konnte, den man den ganzen Winter über verschlossen hatte, während sein Bewohner auf Auslandsreisen fort war. Diese Reisen waren nun beendet. Mitten in einem herrlichen Frühling war Charles nach London zurückgekehrt, und er genoss den milden Tag. Draußen konnte er ein ständiges Schnipp, Schnipp, Schnipp hören, während Cumberbatch – sein Hausmeister, Gärtner und Dienstbote – mit seiner langen Schere die Buchsbaumhecke stutzte.
Der einfache Rhythmus schien seinen Gedanken Gestalt zu geben, während er sein Wirtschaftsbuch genau studierte. In seiner Abwesenheit hatte der Haushalt halbwegs gut funktioniert, doch es gab Lücken und Versehen, die in Einklang gebracht und korrigiert werden mussten. Wäre ihm klar gewesen, dass er so lange fort sein würde, hätte er wohl bessere Vorkehrungen getroffen. Dennoch … Seine Pläne hatten schließlich zu einem guten Ende geführt, und die unbedeutende Sache mit den Konten war keine Angelegenheit, die nicht mit einem Besuch bei der Bank und ein paar Entschuldigungsbriefen wiedergutgemacht werden konnte.
Alles zusammen betrachtet, war er mehr als zufrieden mit dem Ergebnis seiner letzten, immens herausfordernden Arbeiten. Nun war er bereit, sich auszuruhen und der Natur ihren Lauf zu lassen.
Es gab ein Rascheln an den Vorhängen, doch Charles, der ganz in seine Arbeit vertieft war, dachte sich nichts dabei, bis er einen schleifenden Schritt und das Knarren von Holz auf der Schwelle hörte. Als er von seiner Lektüre ein wenig aufblickte, sah er einen langen, dünnen Schatten auf dem kleinen Perserteppich. Er hob seine Augen, und der Eindringling trat in den Raum hinein.
»Douglas!«, keuchte er auf. »Gütiger Himmel, Sohn – hast du mich erschreckt.«
»Tut mir leid, Vater«, entgegnete der junge Mann. »Es war nicht meine Absicht, dich zu erschrecken.«
»Ich möchte sagen …« Charles schloss sein Buch und stand auf. »Was machst du da überhaupt – im Garten herumzuschleichen? Warum bist du während des Semesters hier?«
»Ich bin mit Oxford fertig, Vater«, antwortete Douglas. Er ging zu dem ledernen Ohrensessel gegenüber dem Schreibtisch und fläzte sich hinein. »Oder vielleicht ist Oxford mit mir fertig.«
»O, Douglas.« Charles setzte sich wieder in seinen Sessel hinter dem Schreibtisch. »Erzähl mir jetzt nicht, dass du ins Gefängnis geschickt worden bist!«
Der junge Mann verzog sein Gesicht zu einer verdrießlichen Miene. »Ich bin nicht ins Gefängnis geschickt worden. Ich habe den Ort verlassen.«
»Wir haben diese Diskussion schon früher geführt. Du musst dein Studium abschließen.«
»Muss ich, Vater?«, schnaubte er. »Warum muss ich? Du hast es doch auch nie abgeschlossen.«
»Jetzt hör mir zu!«
»Nein! Du hörst mir zu.« Douglas sprang auf die Füße und begann, vor dem Schreibtisch hin und her zu gehen. »Mein ganzes Leben lang habe ich von dir Anweisungen erhalten, und ich habe das von Herzen satt. Ich gehe nicht mehr dorthin zurück. Und es ist mir ganz egal, was irgendjemand dazu sagt.«
»Sprich nicht in diesem lauten Ton mit mir, Douglas.«
»All diese kleinkarierten Potentaten, die mit ihren winzigen Lehen prahlen: Sie sind nichts weiter als Wichtigtuer, Schwätzer und Idioten – die ganze Bagage.«
»Das ist unfair …«
»Es ist bloß eine beschissene Zeitverschwendung!«
»Hüte deine Zunge in diesem Haus!« Charles betrachtete seinen missratenen Sohn und kämpfte innerlich, damit er seine Beherrschung nicht verlor. »Was hast du dieses Mal angestellt, Junge?«
»Behandle mich nicht so herablassend!« Ruhelos stolzierte er vor dem Schreibtisch einher; er schien vor Wut gleich zu platzen. »Das verbitte ich mir!«
»Du kannst nicht erwarten, hier als Gast zu leben. Du musst Arbeit haben. Was beabsichtigst du zu tun?«
»Ich werde die große Suche aufnehmen«, erwiderte er arrogant. »Das ist immerhin das Handwerk der Flinders-Petrie-Familie.«
»O, Douglas«, seufzte sein Vater. »Das haben wir doch schon früher durchgekaut. Und wir sind übereingekommen, dass du wartest, bis du dein Studium beendet hast. Wenn du es jetzt aufgibst, wirst du in keiner Weise darauf vorbereitet sein, den
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