die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
„Versuch nur, bei Bewusstsein zu bleiben, bis wir ...”
Auf dem Pfad vor ihnen war plötzlich das Geräusch von Stahl zu hören, der auf Leder traf. Der Hengst scheute, als jemand vom Boden her nach seinen Zügeln griff. Marek stürzte mit einem Schmerzensschrei vom Pferd und riss Rhia mit sich. Ihr Aufprall auf dem Boden war so hart, dass ihnen für einen Moment der Atem stockte.
Rhia richtete sich auf einen schmerzenden Ellenbogen auf und sah, wie einer der Soldaten mit gezogener Klinge auf sie zukam. Es musste derjenige sein, den die Krähe aus dem Lager gelockt hatte. Wenn er es war, war er allein. Sie sah Marek an, der die Augen weit aufriss.
Einige Schritte entfernt blieb der Soldat stehen. „Du schon wieder.”
Auch wenn die Dunkelheit sein Gesicht verhüllte, würde sie diese Stimme nie vergessen. Razvins Mörder.
Das Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzerrt, trat der Nachfahre auf sie zu. „Deinetwegen bin ich zurückversetzt worden. Ich musste am Tag der Schlacht zurückbleiben und auf Ungeziefer wie ihn aufpassen.” Sein Schwert richtete sich auf Marek, der vergeblich versuchte, aufzustehen. „Ich habe gebetet, dass dieser Tag kommen wird.” Auf dem Gesicht des Nachfahren breitete sich langsam ein Lächeln aus. „Das heißt wohl, meine Götter sind die wahren.”
Solange er redete, tötete er wenigstens nicht. „Hattest du Zweifel daran?”, fragte sie ihn.
„Wir haben alle Zweifel. Bis auf dein Volk vielleicht. Ihr seid zu schlicht gestrickt, um Fragen zu stellen. Man könnte genauso gut erwarten, dass ein Hund seinen Herren fragt, warum er jagen soll oder sich hinlegen oder die Schafe von links nach rechts treiben.”
„Ich habe Fragen gestellt”, sagte sie. „Ich habe mich gefragt, warum Krähe alle Menschen zu sich nimmt, selbst jene, die die Existenz der Geister verneinen.”
„Das glaube ich dir nicht.”
„Es ist egal, ob du an sie glaubst. Sie behütet dich dennoch. Eines Tages wird Krähe dich zu sich nehmen.” Sie bemerkte eine rasche Bewegung hinter ihm. Vielleicht schneller, als du denkst.
Lycas sprang aus den Büschen und warf sich auf den Soldaten, der sich gerade rechtzeitig umdrehte, um den Dolchstoß abzuwehren. Der Aufprall war so stark, dass beide Waffen scheppernd zu Boden fielen. Während sie mit Fäusten kämpften, trat Rhia über das schwere Schwert und nahm den Dolch ihres Bruders an sich. Er war fast so lang wie ihr Unterarm, aber im Gegensatz zu dem Schwert konnte sie ihn wenigstens heben.
In Bestform hätte Lycas den Soldaten schon lange besiegt, aber sein Körper war von der Schlacht erschöpft, während der Nachfahre den Tag damit verbracht hatte, Marek zu bewachen. Rhia wartete auf die Gelegenheit, ihrem Bruder sein Messer zurückzugeben.
Der Soldat rammte seine Hand gegen Lycas’ Kiefer und dann das Knie zwischen seine Beine. Gelähmt vor Schmerz fiel Lycas zu Boden.
Der Nachfahre suchte den Boden nach seiner Waffe ab und sah Rhia, die den Dolch in der Hand hielt. Sein Schwert lag direkt zu ihren Füßen. Er sprang. Sie hob die Hände, um sich zu schützen, und rammte den Dolch tief in seine Eingeweide.
Blut ergoss sich über ihre Hand, als sie versuchte, die Waffe herauszuziehen. Sie musste wieder und wieder zustechen, denn er war noch nicht tot. Seine Augen wurden vor Schmerz und Erstaunen groß, aber das Licht in ihnen schien stark und hell.
Seine Hände legten sich ihr um den Hals. Sie ließ das Messer los und versuchte, ihn von sich zu stoßen, aber sein Griff war zu fest.
Vor ihren Augen begannen schwarze Flecken zu tanzen. Statt ergeben zu blicken, waren seine Augen voller Triumph.
„Biest”, flüsterte er, als er zudrückte.
Stahl sauste zwischen ihnen nieder, und die Hände des Nachfahren krampften sich erst zusammen, ehe sie plötzlich losließen. Rhia löste sich aus seinem Griff und sah, wie Marek neben ihr auftauchte. Er stand auf einem Fuß, das Schwert in beiden Händen. Er drehte es in der Brust des Nachfahren, der nicht mehr überlegen aussah, sondern nur noch verwirrt.
Mit wilder Wut im Blick stieß Marek das Schwert noch tiefer.
Krähes Flügel rauschten in Rhias Kopf und nahmen sie mit sich in die Dunkelheit.
42. KAPITEL
D ie große Trauer begann.
Asermos war erfüllt von Gesängen für die Toten, gesungen von jedem, der noch Atem hatte. Die Nachricht der Niederlage der Nachfahren überholte die Flüchtlinge aus Asermos auf ihrem Weg nach Tiros, die nach zwei Tagen zurückkehrten. Das Weizenfeld war zu einem
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