die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
lassen dürfen. Sie brauchte den heutigen Tag, um sich daran zu gewöhnen, allein im Wald zu sein. In dieser Nacht konnte sie um Kraft für den morgigen Tag beten, um stärker und besser vorbereitet zu sein. Niemand würde etwas merken.
Bis auf die Geister. Aber waren sie überhaupt hier?
Rhia blieb stehen und hielt den Atem an. Im Wald raschelten Vögel, Tiere und der Wind. Auf den Zweigen über ihrem Kopf rieb Nadel an Nadel, als die Brise über sie hinwegstrich. Sie wartete einige Minuten darauf, dass die Geister sich ihr näherten. Vielleicht standen sie, wenn sie die Augen öffnete, um sie herum, Tiere in ihrer kultischen Gestalt, bereit, ihre Weisheit an den neuesten Suchenden weiterzugeben.
Aber sie waren nicht da. Alles, was sie mit blinzelnden Augen erblickte, waren die gleichen Bäume und Steine, die schon früher dort gewesen waren. Ihre Sinne spürten nichts Außergewöhnliches.
„Sie sind hier”, sagte sie laut.
Auch wenn der Tag sich lang hinzog, hatte die Nacht es eilig, sich über den Wald zu legen. Rhia konnte kaum den Flintstein in ihrer Hand sehen, als sie versuchte, das abendliche Feuer zu entzünden. Ihre Umgebung war so schwarz, dass ihr der Funke, der vom Stein auf die trockenen Blätter übersprang, ein Bild ins Auge brannte, das auch nach mehrmaligem Blinzeln dort blieb.
Bald brannte das Feuer hell, und Rhia kauerte sich daneben zusammen, beide Decken eng um sich geschlungen, als könnte allein die Wärme sie vor dem, was im Wald lauerte, bewahren. Jetzt, da ihr kalt war, vermisste sie Nahrung noch mehr, vermisste die Wärme, die sie in ihrem Körper entfachen würde. Sie vermisste den Kamillentee, den ihre Mutter für sie kochte, wenn sie nachts nicht schlafen konnte.
Sie vermisste ihre Mutter. Sie wollte ihre Mutter.
Ihr Stolz hielt die Tränen so lange zurück, bis sie nicht mehr gehalten werden konnten.
„Mama ...” Sie schluchzte wie ein Kind, mit bebenden Schultern und weher Kehle. Wenn sie ihre Mutter nur ein letztes Mal sehen, noch einmal von ihr in die Arme genommen werden könnte.
Plötzlich spürte sie eine Gegenwart in der Dunkelheit. Jede Stelle ihrer Haut kribbelte. Sie wagte es nicht, etwas anderes als ihre Augen zu bewegen, um sich umzusehen. Aber das Feuer brannte ihr in den Augen und machte es unmöglich, in den Wald zu sehen.
Hatte sie Mayras Geist von der anderen Seite gerufen? Die Gegenwart fühlte sich alles andere als mütterlich an. War sie wütend, gestört worden zu sein?
„Es tut mir leid”, flüsterte sie. „Es tut mir so leid. Bitte, nein.”
Rhias Atem ging jetzt so flach, dass sie fürchtete, aus Luftmangel das Bewusstsein zu verlieren. Sie sollte um Kraft und Mut beten, aber selbst wenn sie die Worte fände, wären ihre Lippen zu starr, ihre Kehle zu eng, um sie auszusprechen.
Sie lauschte auf jedes unbekannte Geräusch, aber es kam keines, nur der Wind flüsterte in den Zweigen. Sie bekam jedes Mal eine Gänsehaut, wenn zwei Zweige aneinanderrieben. Wenige Meter vom Feuer entfernt stand ein Baum, der im Eissturm einen seiner Aste fast ganz verloren hatte. Was blieb, hing nur an einigen Fasern und knarrte in kräftigeren Brisen.
Was auch immer dort draußen lauerte, es beobachtete sie. Prüfte sie. Urteilte über sie.
Es hielt sie in seinem Bann, als der fast volle Mond an den Himmel stieg und den Waldboden in silbernes Licht tauchte. Es beobachtete sie, als der Mond über den Himmel stieg, bis er hinter den hohen Wolken verborgen war, die sein Licht zu einem schwachen Glühen dämpften.
Sie wusste nicht, wie man die Prüfung bestand. Sie wusste nur, dass sie überleben musste und nicht vor Angst sterben durfte. Im Augenblick schien Rhia jedoch selbst dieses bescheidene Ziel schwer zu erreichen.
Es beobachtete sie weiter, stumm und unbewegt, bis die erste Morgenröte im Osten am Horizont schimmerte. Dann zog es sich zurück und sprach einen einzigen Satz aus, ein Versprechen, das es nicht brechen würde.
Bis heute Abend.
Rhia begann unkontrollierbar zu zittern. Sie schlang die Arme um die Knie und drückte, bis sie wehtaten. Fast fürchtete sie, ihr Körper würde zerbrechen und zu einem Haufen Knochen zusammenfallen.
Als die Sonne über den Horizont spähte, richtete sie ihren hungrigen Blick auf das orangefarbene Licht, als wäre es Nahrung für ihre Augen. Im Stillen fragte sich ein Teil von ihr, ob das der letzte Sonnenaufgang war, den sie je zu Gesicht bekommen würde.
12. KAPITEL
W arum bist du hier?”, fragte die Schlange
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