die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
wieder die Befragte. Sie hockte sich hin, um das Insekt näher zu betrachten.
„Ich sehe ...” Sie zögerte, das Offensichtliche auszusprechen: eine Libelle. Vielleicht meinte das Insekt die Umgebung und bat sie, den Wald zu beschreiben.
„Was siehst du”, wiederholte es und schaute sie aus hervorstehenden grünen Augen an, „wenn du mich ansiehst?”
Rhia fiel keine bessere Antwort ein, deshalb sagte sie: „Eine Libelle?”
Eine Hitzewelle schlug über ihr zusammen, als das Insekt sich plötzlich streckte, anschwoll und in Länge und Breite wuchs, bis es die Größe eines Bären angenommen hatte. Rhia hatte zu viel Angst, um zu schreien. Sie ließ sich auf den Findling fallen und kroch zum Rand, ohne den Blick abwenden zu können.
Die vier Hinterbeine verschmolzen zu einem schweren Paar, auf dem das Scheusal jetzt stand. Kleinere Vorderbeine bildeten Krallen aus und streckten sich, als es sich über ihr erhob. Seine riesigen grünen Augen schoben sich weiter auseinander und schrumpften, während ihr starrer Blick auf Rhia gerichtet blieb. Sein Schwanz durchschnitt die Luft und glänzte golden im Sonnenlicht.
Es sprach wieder, in einer Sprache, die sie nicht verstand, einer Sprache, die ihr gleichzeitig abgehackt und fließend erschien. Es fuhr in seinem Vortrag fort, ohne innezuhalten, sprach, während p>es ein- und ausatmete. Und in diesem Augenblick wusste Rhia, dass dieses Tier nicht von dieser Welt sein konnte.
„Was bist du?”, flüsterte sie.
Rauch quoll aus seinen Nüstern, während es mit sich zu ringen schien. Dann brachte es keuchend und heiser eine Antwort heraus, sodass es klag, als weigerte sich seine Zunge, Worte zu formen, die Rhia verstehen konnte.
„Drache”, sagte es. „Fürchte dich nicht.”
Rhia nickte, die Augen weit aufgerissen. Sie wagte nicht, zu blinzeln.
„Fürchte dich nicht.” Der Drache schüttelte seine goldschwarzen Flügel aus. „Das ist ein Befehl, keine Empfehlung.”
Sie schauderte angesichts der Drohung, die in den Worten mitschwang, setzte sich aber auf und betrachtete die lauernde Miene des Drachen.
„Versuchst du, mich einzuschüchtern, damit ich keine Angst mehr vor dir habe?”
Der Drache kniff die Augen zusammen und entspannte sich dann scheinbar. Sein Blick wirkte fast anerkennend. „Du bist klug, Kleine.”
„Manchmal.”
Ehe sie das Wort ausgesprochen hatte, sauste die Spitze des stachligen Schwanzes an ihrem Kopf vorbei. Der Drache starrte sie grollend an. „Das wird dein Ende sein.”
Sie senkte den Blick. „Es tut mir leid.”
„Was?”
Dir auf die Schliche gekommen zu sein, dachte sie.
„Das habe ich gehört!” Der Schwanz zischte wieder an ihrem Ohr vorbei. Der Drache hockte sich auf den Stein, doch in der geduckten Haltung wirkte er nur noch bedrohlicher. Er knurrte und fluchte vor sich hin. „Du lernst schneller, als du verstehst.”
„Was bedeutet das?” „Eins solltest du wissen.”
Sie neigte den Kopf zur Seite und wartete auf eine Erklärung. Doch als der Drache einfach nur dasaß und Rauch aus seinen Nüstern aufstieg, wurde Rhia ungeduldig.
„Was sollte ich wissen?”
Reglos starrte er sie an, als hätte er ihre Frage nicht gehört. Rhia wünschte, Twiga würde zurückkehren – oder sogar die Schlange. Aber die Geister schickten jene, die ihr am besten etwas beibringen konnten. Warum also fühlte sie sich, als wüsste sie jetzt noch weniger als am Morgen?
Je mehr sie fragte, desto weniger verstand sie. Es erinnerte sie an die geschnitzten Holzpuzzles, mit denen sie als Kind gespielt hatte. Jedes Stück fügte sich an ein anderes, sodass ein Ganzes entstand. Aber dieses Puzzle wurde mit jedem weiteren Teil nur komplizierter, als vergrößerte das Hinzufügen von weiteren Teilen das Bild. Sie würde nie herausfinden, was sie lernen sollte. Ihre Weihung würde fehlschlagen.
Tränen der Enttäuschung brannten ihr in den Augen. Sie wischte sie sich schamerfüllt ab.
Stirnrunzelnd sah der Drache sie an. „Deine Verzweiflung kommt zu früh. Du wirst viel größeren Hindernissen gegenüberstehen als deinem Unwissen.”
„Ich bin nicht unwissend. Ich weiß nur diese eine Sache nicht.” „Aber alles andere weißt du, richtig?”
„Nein, natürlich nicht.”
„Und was weißt du?”
„Ich weiß, dass ...” Sie suchte nach einer Wahrheit, die noch nicht zerstört worden war. Hunger, Durst und Erschöpfung hatten ihr die Fähigkeit genommen, klar zu denken. Zweifel und Angst bestürmten sie.
„Sag
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