die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
Eiszapfen prasselten auf den Boden. Sie bemerkte mit einem Seufzen, dass sie es waren, die das gruselige Geräusch machten, das klang, als würden sich ein Dutzend winzige Wesen an sie heranschleichen.
Eine Brise wehte, und der ganze Wald um sie herum erklang zu einer klirrenden Symphonie aus Eis und Schnee. Sie drückte sich gegen den Stein und sah auf, um sicherzugehen, dass dort, wo sie stand, keine Zweige hingen, denn einige der Eiszapfen waren so dick wie ihr Unterarm. Der nächste Baum war wenigstens zwanzig Schritte entfernt.
Rhia legte den Beutel ab, zog die zusätzliche Decke hinaus, eine hellbraune aus Wolle, und kletterte auf den flachen Stein. Sie breitete die Decke aus und setzte sich mit gekreuzten Beinen darauf. Dann wickelte sie die erste Decke fest um sich. Auch wenn die Morgensonne bereits die dunkle Oberfläche des Steines wärmte, brachte das ständige Klirren von Eis gegen Schnee sie zum Zittern.
Es gab nichts zu tun, außer zu warten. Warten und beten. Sie schloss die Augen.
Geister, gewährt meinem Körper und meiner Seele die Stärke, diese drei Tage zu überstehen. Schickt alle, die mir beibringen können, was ich lernen muss, und lasst mich eure Weisheit auf meine beschränkte sterbliche Weise verstehen.
Ihr wisst, ich habe Angst. Nehmt mir die Angst oder gebt mir wenigstens den Mut, sie zu verschlucken, wie bitter sie auch schmecken mag.
Sie hielt inne und öffnete die Augen. Ergab das einen Sinn? Ihre Gedanken waren so zersplittert und verstreut wie die Eiszapfen auf dem Boden um sie herum. Sie räusperte sich und starrte in den klaren Himmel hinauf.
„Vielleicht könnt ihr mich besser verstehen, wenn ich laut spreche.”
Ihre Stimme klang zögernd und schwach, und sie war sich unsicher, wie sie den Augenblick beschreiben sollte. Ihr Flehen konnte sie nicht ausdrücken, ihre Gefühle selbst nicht erklären. Also beschloss sie, einfach zu warten. Zu warten und ihren Geist so leer werden zu lassen, wie ihr Bauch es war.
Rhia legte sich auf die Decke und ließ ihr Gesicht von der Sonne wärmen. Das unmelodische Klirren der Eiszapfen war ein Echo der Unruhe in ihren eigenen Gedanken.
Sie hatte den ersten Schritt ins Unbekannte getan. Er war zögerlich und unsicher gewesen, aber es gab kein Zurück mehr.
Der Tag zog sich länger dahin als jeder andere Tag in Rhias Erinnerung. Er wurde nicht von Pflichten oder Ritualen oder Gesprächen in Abschnitte geteilt – er war einfach. Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, waren alle Eiszapfen gefallen. Da die Bäume nicht länger an Tod und Entstellung erinnerten, beschloss sie, Holz für das nächtliche Feuer zu sammeln.
Sie machte sich gen Osten auf und verlor den Findling nie aus den Augen.
Sie trat Eiszapfen aus dem Weg, die eine fröhliche Musik schufen, als sie sich auf dem nackten Boden berührten. Wegen des Sturmes lagen Zweige jeder Größe auf dem Waldboden verstreut. In wenigen Minuten hatte sie genug Feuerholz gesammelt, um drei Tage auszuhalten. Sie sortierte es der Größe nach zu Haufen, trat dann zurück, um ihre Arbeit zu bewundern, und kam sich auf einmal dumm vor.
Ihre Zeit war ein Geschenk, nicht etwas, das man vertreiben musste. Diese drei Tage kamen nur einmal in ihrem Leben. Sie sollte sich geehrt fühlen.
Und warum spürte sie dann kaum mehr als etwas Nervosität? Bald würde der Himmel sich verdunkeln, und sie musste zum ersten Mal in ihrem Leben allein schlafen. Doch Schlaf, ermahnte sie sich selbst, war zusammen mit Nahrung und Wasser während der Weihung verboten.
Wasser. Allein bei dem Gedanken daran wurde ihr die Zunge trocken. Sie ging unruhig um den Findling herum und versuchte, ihrer Aufregung die Schärfe zu nehmen. Besonders, besonders, besonders, sagte sie in Gedanken bei jedem Schritt. Ehre, Ehre, Ehre.
Wasser, Wasser, Wasser, antwortete ihr Körper in den Augenblicken zwischen den Schritten.
Rhia ignorierte die Bedürfnisse von Mund und Magen und war entschlossen, an wichtigere Dinge zu denken. Dinge wie Gebet, Meditation, Reisen und Kommunikation mit den Geistern, die jeden Moment auftauchen dürften.
Immer wenn ihr Weg sie am Beutel vorbeiführte, schien er nach ihr zu rufen. Ihre Finger und ihre Zunge konnten die Streifen aus getrocknetem Fleisch darin fast spüren, rau und krümelig an den Rändern, aber zäh und rauchig im Inneren.
Vielleicht sollte sie jetzt etwas essen und ihre dreitägige Fastenzeit am folgenden Tag beginnen. Galen hätte sie nicht so überraschend allein
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