Die Seelenzauberin - 2
den verletzten Flügel zu säubern. Das Weibchen zuckte zusammen, als sie das geronnene Blut und den Schmutz abrieb, aber es protestierte nicht. Wenn seine Haut heilen sollte, musste das Sonnenlicht sie erreichen können. Mit jedem Zoll Membran, den Siderea freilegte, spürte sie, wie mehr Sonnenglut eindrang und das Blut der Kreatur … und ihr eigenes … erwärmte.
Ich werde wieder heil und unversehrt sein , dachte sie ehrfürchtig.
Sie hatte getan, was sie konnte, und trat zurück, um den Seelenfresser in aller Ruhe zu betrachten: das Heben und Senken seines Brustkorbs, das Sonnenlicht, das azurblaue und violette Wellen auf der verletzten Schwinge erzeugte. Wie schön diese fremdartigen Kreaturen doch waren, dachte Siderea. Die alten Mythen berichteten lediglich, dass sie Schrecken und Tod verbreiteten, und raunten von seltsamen Kräften, aber von ihrer Schönheit erzählten sie nichts. Kein Wunder, dass die Menschen in den Bann dieser Wesen geraten waren, als sie das erste Mal am Himmel erschienen. Kein Wunder, dass es ihnen so schwergefallen war, sich wirksam gegen sie zu verteidigen.
Langsam und vorsichtig legte sie sich neben das Seelenfresser-Weibchen und lehnte den Kopf an dessen Schulter. Sie spürte das Pochen seines Herzens an ihrer Wange, stark und ruhig jetzt, allmählich langsamer werdend, als das Riesenwesen in den Schlaf glitt. Sie schloss die Augen und versuchte, die Anspannung der letzten Tage – und die Schmerzen der letzten Stunden – abzustreifen und sich einfach in dem süßlichen Moschusduft zu verlieren. Allmählich verlangsamte sich auch ihr eigener Herzschlag und glich sich dem Puls der Kreatur an; ihre Atemzüge wurden ruhiger und fielen in den gleichen Rhythmus.
Und dann schlummerten sie beide, und das Sonnenlicht wärmte ihre Schwingen.
Kapitel 14
Kamala hörte die Schreie bis in den Schlaf.
Jedenfalls bis vor zwei Tagen, als sie das letzte Mal geschlafen hatte. Seither hatte sie bestenfalls mit geschlossenen Augen auf dem Boden gelegen und gewartet, dass es hell wurde. Rhys hielt es offenbar für wichtig, zumindest das zu tun, obwohl sie ziemlich sicher war, dass auch er nicht schlief. Der Körper brauche Ruhe, meinte er, auch wenn der Geist diese nicht fände.
Die Götter allein wussten, was die Pferde durchmachten.
Rhys sagte, sie dürften die Schreie eigentlich noch nicht hören. Dass sie trotzdem zu vernehmen waren, musste wohl als weiteres Zeichen dafür gelten, dass in dieser Region etwas sehr im Argen lag und dass sich die Ursache dafür nur wenige Tagesreisen vor ihnen befand. Er sagte, früher hätte man viel näher an den Heiligen Zorn herangehen können, bevor die Todesschreie zu vernehmen waren. Und die Schmerzensschreie. Und die Hungerschreie. Die Hüter verwendeten Tränke, um die Wirkung zu dämpfen, aber alle seine Tränke waren in Anukyats Zitadelle zurückgeblieben. Zusammen mit seinen Karten.
Fröstelnd wälzte sich Kamala auf ihrem Lager hin und her und wünschte sich nur eine Stunde Ruhe, um schlafen zu können. Aber die Hüter kannten kein Mittel, um das zu erreichen, und Zauberei kam natürlich so dicht am Heiligen Zorn nicht infrage. Ein Stillezauber würde ihr womöglich die Trommelfelle zerfließen lassen, anstatt irgendetwas Nützliches zu bewirken.
Vorsichtig öffnete sie ein Auge und sah, dass endlich doch die Sonne aufging. Mit einem matten Seufzer richtete sie sich auf und sah, dass Rhys bereits auf den Beinen war und nach den Pferden sah, die sie am Bach angebunden hatten. An den langen Lederleinen konnten sie ungehindert trinken und nach Belieben das dichte Sommergras im näheren Umkreis abweiden – falls sie sich so weit beruhigten. Ob die Pferde wohl auch menschliche Schreie hörten? , fragte sich Kamala. Oder waren es Tierlaute, die ihre Nerven aufs Äußerste strapazierten? Vielleicht die Todesschreie gemarterter Pferde? Die Tiere marschierten unentwegt auf und ab, so weit die dünnen Lederleinen es zuließen, und man sah nur zu deutlich, dass alle ihre Instinkte schrien, sie sollten sich losreißen und wegrennen, als wären alle Dämonen der Hölle hinter ihnen her. Bisher hatte nur Rhys’ ruhige Bestimmtheit sie davon abgehalten. Aber wie lange würde er das noch schaffen?
»Wenn sie wirklich flüchten wollen, werden die Leinen sie nicht hindern«, sagte sie.
Rhys schaute sie an. Seine Hand sei nicht mehr fest genug, um das Messer zu führen, hatte er erklärt. »Das sollen sie auch nicht.« Er kam zurück und kniete neben den
Weitere Kostenlose Bücher