Die Seelenzauberin - 2
Blickfeldes befanden, ein Zeichen. Siderea stockte der Atem; würden die anderen abziehen, wie sie es verlangt hatte, oder würden sie zur Schlucht herabsteigen und versuchen, ihr ihren Willen aufzuzwingen? Falls es tatsächlich dazu käme, würde sie kämpfend untergehen. Sie spürte, wie sich das Seelenfresser-Weibchen unter ihr bereit machte, an ihre Seite zu treten und ihr beizustehen. Seltsam, so etwas ohne Worte zu wissen. Die Bannkräfte der anderen Seelenfresser konnten ihr nichts mehr anhaben, seit das Weibchen sie angenommen hatte, auch das sagte ihr der Instinkt. Sie sollten nur kommen.
Ein riesiger Seelenfresser flog so tief über die Schlucht hinweg, dass seine Schwingen den Staub vom Boden aufwirbelten und ihr der Luftzug das Haar zerzauste. Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort hätte sie sich ängstlich geduckt. Aber nicht hier, nicht jetzt. Keine Waffe in seinem Arsenal konnte schrecklicher sein, als es der Abstieg in die Schlucht gewesen war, und die Prüfung hatte sie bestanden. Nie wieder würde sie diesen Geiern die Genugtuung geben, sie furchtsam zu erleben.
Nun flogen auch die übrigen Seelenfresser mit gellenden Schreien über ihren Kopf hinweg und strebten den Bergen zu. Sie glaubte zu sehen, dass sie etwas auf dem Rücken trugen, Menschen vielleicht, die sich tief über ihre Schultern beugten, aber das konnte sie von da, wo sie stand, nicht mit Gewissheit sagen. Es war auch nicht wichtig. Was zählte, war, dass Menschen und Seelenfresser abzogen, weil sie es befohlen hatte.
Unten in der Schlucht strebte das Weibchen auf die Geröll-Lawine zu und versuchte dabei erneut, seinen verletzten Flügel zu befreien. Siderea spürte den Schmerz in ihrem eigenen Arm und zuckte zusammen. Vielleicht wäre sie ohne Rücksicht auf die Gefahr noch einmal hinabgestiegen, um dem Wesen beim Klettern zu helfen, aber es hätte nichts genützt. Sie konnte in dieser Enge nichts Sinnvolles tun und würde womöglich noch zerquetscht. »Alles wird gut«, sagte sie ruhig. Ob der Seelenfresser ihre Worte wohl verstand? Und wenn nicht die Worte, dann wenigstens den Tonfall? »Sie sind fort. Es wird alles gut.«
Was für eine groteske Situation! Sie unterhielt sich ganz selbstverständlich mit einem der größten Raubtiere auf dieser Welt, einem Wesen, das sich – wenn die Mythen die Wahrheit sagten – von den Seelen menschlicher Wesen ernährte. Siderea fand das Weibchen inzwischen nicht mehr so beängstigend. Sie spürte, wie es Wellen der Angst aussendete, als es den Geröllhang betrachtete, seinen einzigen Weg in die Freiheit. »Du musst allein herausklettern«, sagte sie. Als ob es die Sprache der Menschen verstünde. »Ich kann dir nicht helfen. Es tut mir leid.«
Das Weibchen machte sich an den Anstieg. Langsam, schwankend, jedes Mal einen Klauenfuß tief in das Geröll bohrend, bevor es wagte, den anderen nachzuziehen, den langen Schwanz so lange wie möglich unter sich in den festen Boden stemmend. Siderea spürte jedes Schlittern, als müsste sie selbst den Hang erklimmen. Der verletzte Flügel schleifte hinterher, frei zwar, aber nicht zu gebrauchen. Siderea sah ihn zucken, sooft das Wesen versuchte, mit ihm das Gleichgewicht zu halten, und zuckte jedes Mal mit. Diesem Seelenfresser brauchte man das Fliegen nicht zu verbieten , dachte sie grimmig. Es würde lange dauern, bis diese Schwinge ihn wieder tragen würde – wenn überhaupt.
Endlich erreichte das Riesengeschöpf mit letzter Kraft den oberen Rand der Lawine. Angesichts der Strecke, die es noch zurückzulegen hatte, überlief es ein Schauer. Von hier ging es mehrere Meter weit senkrecht die Wand empor. Schon für die Füße eines Menschen gab es wenig Halt, und keiner der Tritte war groß genug für eine solche Kreatur. Das Weibchen bewegte den Kopf hin und her und suchte die Wände ab, aber es gab keine Stelle, die es zu Fuß besser erreichen konnte. Der lange Schwanz rollte sich ein und wieder aus und suchte wie eine verstörte Schlange nach einem Stück festen Bodens wie auf dem Grund der Schlucht, um sich abzustützen. Doch hier oben gab das lose Geröll bei jeder Bewegung nach.
Es gab keinen einfachen Weg in die Freiheit.
Zu guter Letzt stellte sich das Weibchen vor einen Abschnitt, der weniger unwegsam zu sein schien als die meisten anderen, und nahm alle Kräfte zusammen. Seine Flanken zitterten vor Anspannung. Dann schnellte es sich in die Höhe, dass die Steine nach allen Seiten davonspritzten, und versuchte mit flatternden
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