Die Seelenzauberin - 2
Schwingen noch ein paar Zentimeter mehr herauszuholen. Es war ein verzweifelter Versuch, und vielleicht hätte er sogar glücken können, wenn die Gefangenschaft das arme Ding nicht so sehr geschwächt hätte. So jedoch erreichte es den oberen Rand nicht. Die Klauen griffen nach der Kante und bohrten sich dicht darunter in die Erde. Wäre der Boden fester gewesen, hätte es sich vielleicht nach oben ziehen können. Doch Siderea sah zu ihrem Entsetzen die Krume unter den riesigen Krallen bröckeln. Eine Lawine aus Erdreich und Steinen stürzte wie zur Warnung in die Schlucht hinab. Sie dachte schon, der Seelenfresser würde mitgerissen, und wich instinktiv aus, um nicht zermalmt zu werden. Doch das Weibchen warf in seiner Not den mächtigen Schwanz über die Kante, verlagerte sein Gewicht und versuchte, einen Fuß auf ein schmales Steinsims zu seiner Linken zu setzen. Siderea hielt den Atem an. Sie hörte den Schwanz mit lautem Knacken aufschlagen, dann straffte er sich und glich das Gewicht des Körpers aus. Die Erde bröckelte nicht weiter, der Seelenfresser stützte sich gegen einen neuen Tritt; die scharfen Krallen des zweiten Fußes hatten eine kostbare Sekunde Zeit, sich tief in die Schluchtwand zu graben … und dann verschwand das Wesen mit einer letzten Anstrengung über dem Rand.
Siderea brach auf dem Geröll in die Knie. Sie war so erschöpft, als hätte sie selbst die Wand erklommen, und begriff erst allmählich, dass ihr der Anstieg noch bevorstand. Doch da schlängelte sich der lange geschmeidige Schwanz schon wieder nach unten und auf sie zu. Sie wich nicht zurück. Schlangengleich tastete er sich zu ihr, fand sie und legte sich um ihren Leib. Die glatten Schlingen kneteten ihr Fleisch, suchten Halt und spannten sich um ihren Rumpf. Auch als sie die scharfen Platten am Schwanzende dicht vor ihrem Gesicht vorbeigleiten sah, hatte sie keine Angst. Vielleicht hatte sie Vertrauen gewonnen? Oder sie war einfach zu müde? Eines stand jedenfalls fest: Die Urkräfte, die ihr geholfen hatten, sich der Herausforderung durch die anderen Seelenfresser zu stellen, waren verbraucht.
Der muskulöse Schwanz hob sie auf und zerrte sie nach oben. Sie prallte mit ihrem verletzten Arm gegen die Felswand und krümmte sich vor Schmerz, schrie aber nicht auf. Das Weibchen zog sie über die Kante und schleppte sie auf einen sonnenbeschienenen Fleck. Die Schlangenwindungen lockerten sich und gaben sie frei. Sie hatte nicht mehr die Kraft, davonzukriechen, sondern blieb einfach liegen, wo man sie abgesetzt hatte, lehnte sich gegen die schmutzverkrustete Flanke des Ungeheuers und rang nach Atem. Sie spürte den Pulsschlag des Weibchens an ihrer Wange und hörte wie aus weiter Ferne das Pochen des mächtigen Herzens, das jetzt, da die gigantische Anstrengung vorüber war, allmählich langsamer wurde. Aber das bildete sie sich womöglich nur ein. Tatsächlich schwanden ihr die Sinne, und sie konnte kaum noch irgendetwas hören. Sie wusste auch, woran das lag. Die letzten Funken ihres Seelenfeuers verflackerten, und von ihrem Herzen ging eine sonderbare Kälte aus. Das Sonnenlicht verblasste, ihre Augen wurden schwächer. Die irrwitzigen Strapazen dieses Tages hatten den letzten Rest ihrer Lebensenergie aufgezehrt.
Ich habe dich gerettet , rief sie der Kreatur in stummer Verzweiflung zu. Willst du dich nicht dankbar erweisen?
Ein letztes schmerzvolles Zittern durchlief ihren Körper. Sie schloss die Augen. Ihre Gliedmaßen schienen weit entfernt, als gehörten sie ihr nicht mehr, sondern wären unpersönliche Dinge, von außen gelenkt. Sie beugte und streckte die Finger an ihrer heilen Hand, um das sonderbare Gefühl zu vertreiben, aber es hielt sich hartnäckig. Sie versuchte, die verletzte Schwinge auszustrecken, aber die scharfen Kanten der gebrochenen Speichen schnitten ihr ins Fleisch und machten die kleinste Bewegung zur Qual. Die Schwinge musste eingerichtet werden, nur dann würde sie heilen. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, den Teil zu strecken, der nicht völlig zertrümmert war, und schließlich gelang es ihr mit leisem Wimmern, etwa die Hälfte der Membran flach auf die Erde zu legen. Mehr war nicht möglich.
Sonnenlicht. Warm, einladend, berauschend. Sonnenlicht, wie dieses Wesen es nie gekannt hatte. Im Schatten geboren, im Schatten aufgewachsen, im Schatten gefangen. Nun fließt das Licht in Wellen über ihre Schwingen, wärmt ihr das Blut, lindert ihre Schmerzen, beruhigt ihre Ängste. Ihr Herz erholt
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