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Die Seelenzauberin - 2

Die Seelenzauberin - 2

Titel: Die Seelenzauberin - 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Celia Friedman
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zu Baum, strich mit den Händen über die Züge in der Rinde und versuchte, jedem Gesicht den zugehörigen Namen zu geben. Als Kind hatte sie alle Namen gekannt und war stolz darauf gewesen, sie hersagen zu können. Wie scharf gezeichnet ihr die Gesichter damals erschienen waren! Nach so vielen Jahren in der Fremde sah sie erschüttert, wie undeutlich die Konturen geworden waren. Je dicker die Stämme wurden, desto eifriger suchten die Bäume die Bildnisse zu überwuchern. Ihre Eltern hatten für die Nachbearbeitung einen Holzschnitzer fest angestellt, aber der konnte bei einem Gedächtniswald dieser Größe kaum Schritt halten.
    Dennoch kam es ihr vor, als wandle sie durch einen Wald von Geistern. Sie glaubte förmlich das Flüstern ihrer Vorfahren zu hören, während sie den vielen Biegungen bis ans Ende folgte.
    Dann stand sie auf einem Hügel, der von allem Gestrüpp befreit worden war, vor einem einzelnen Baum. Er war uralt, mit einer Krone aus langen nadelschweren Ästen, die sich wie ein riesiger blauer Schirm nach außen wölbte. Der Überlieferung zufolge war dieser Baum schon alt gewesen, bevor der Große Krieg begann, und angeblich hausten unter seinen Ästen die Geister aller Menschen, die in jenem Krieg von den Seelenfressern getötet worden waren. In den Stamm war nicht nur – wie es sonst der Brauch war – ein Gesicht geschnitten, sondern die gesamte Gestalt eines Mannes. Dieser Ahne schien dem Besucher mit gezücktem Schwert entgegenzutreten und mit wildem Blick nach versteckten Feinden Ausschau zu halten. Gwynofar fand den Riesenbaum unheimlich und faszinierend zugleich, und in ihrer Kindheit war sie oft nur hier heraufgestiegen, um ihn anzuschauen und darauf zu lauern, dass sich der Krieger bewegte. Bislang hatte er es nicht getan.
    Der Mann, den man so verewigt hatte, war Liam, der erste Protektor von Keirdwyn.
    Evaine Keirdwyn wartete neben dem Baum. Sie beobachtete, wie ihre Tochter den Hang heraufkam, wie sie vom Schatten ins Sonnenlicht und wieder in den Schatten wechselte und sich schließlich der großen Kiefer näherte. Die Erzprotektorin hielt einen schlichten ledernen Schriftrollenbehälter ohne Aufschrift oder Verzierung in den Händen, und ihre Finger spielten unentwegt mit dem Deckel. Sie wirkte nervös, und das erschien Gwynofar ungewöhnlich. Im Allgemeinen verstand Evaine Keirdwyn es meisterhaft, ihre Gefühle zu verbergen und war nach außen hin fast immer die Ruhe selbst.
    Gwynofar ging auf sie zu und umarmte sie herzlich. Auch dabei glaubte sie eine unerklärliche Spannung im Körper ihrer Mutter zu spüren. Hier war etwas ganz und gar nicht in Ordnung, auch wenn es noch nicht ausgesprochen worden war.
    »Ich bin so froh, dass du kommen konntest«, sagte Evaine.
    Gwynofar schenkte ihr ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass es beruhigend wirkte. »Ich habe schließlich sonst nicht viel zu tun, Mutter. Du und Vater, ihr lasst es euch ja nicht nehmen, mich nicht als Familienmitglied, sondern wie einen Gast zu behandeln.«
    Ein leises Lächeln huschte über das Gesicht der Erzprotektorin. »Möchtest du lieber in der Küche Brotteig kneten?«
    »Nein.« Gwynofar lachte leise. »Aber wenn du mir anbieten würdest, unter den staubigen Schriftrollen in der Bibliothek zu wühlen und nach vergessenem Wissen zu suchen, würde ich nicht ablehnen.«
    »Ach ja.« Aus Evaines Augen sprach eine tiefe Traurigkeit. »Alte Schriftrollen sagen uns manchmal Dinge, die wir gar nicht hören wollen.« Ihre Finger schlossen sich fester um den Lederbehälter. »Würdest du – im Bewusstsein dieser Gefahr – jede einzelne Rolle lesen wollen, die du fändest? Oder würdest du vor denen zurückscheuen, die dir Kummer bereiten könnten?«
    Gwynofar zögerte. Sie ahnte, dass ihre Mutter sehr intime Dinge mit ihr besprechen wollte – warum sonst hätte sie sich hier draußen mit ihr verabredet, so fern von allen Zeugen? –, aber nicht wusste, wo sie beginnen sollte. Und ohne den leisesten Hinweis, worum es überhaupt ging, konnte Gwynofar ihr auch nicht helfen. »Ich würde sie lesen, wenn ich könnte. Und mich für den Kummer wappnen. Wie sagte einst mein Lehrer? ›Wissen ist ein zweischneidiges Schwert, und die Hand, die zu eifrig danach greift, könnte ihren Eifer mit Blut bezahlen.‹«
    Ihre Mutter wandte sich ab. Gwynofar beobachtete sie und bemerkte, dass ihre Schultern leise zuckten. Sie legte ihr sanft die Hand auf den Arm. Trotz der Wärme der Luft war die Haut der Erzprotektorin unter dem

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