Die Seelenzauberin - 2
natürlichen Monuments, um Räume nach menschlichen Vorstellungen zu schaffen.
Der Raum war rund – kreisrund – und hatte ringsum in unregelmäßigen Abständen Öffnungen, durch die in breiten Bahnen das Sonnenlicht einströmte. Die meisten dieser natürlichen Fenster waren zu schmal für einen erwachsenen Mann, aber sie entdeckte etliche, die sich als Zugang eigneten. Außerdem stellte sie fest, dass man von hier aus einen weiten Blick über das Land auf der Rückseite des Monuments hatte. Das war eine schlechte Nachricht. Anukyat hatte also auf dieser Seite der Zitadelle keinen Wachturm gebaut, weil dafür keine Notwendigkeit bestand; er konnte das Monument selbst als Ausguck nützen.
Aber es wird nicht sehr oft benutzt , dachte sie angesichts der dicken Staubschicht auf dem Boden. Von der Treppe zogen sich mehrere Schleifspuren zum nächsten Fenster und von dort weiter um die Außenseite des Raumes, aber sie waren so alt, dass sich bereits neuer Staub und dürre Blätter darauf abgelagert hatten. Dieser Raum lag eindeutig nicht auf dem Weg der Zitadellenwache, wenn sie ihre Runde machte.
In der Mitte führte eine Wendeltreppe von unten herauf durch den Boden. Sie war so schmal, dass immer nur ein Mann auf einmal heraufsteigen konnte und die Verteidiger Zeit hätten, um auszuschwärmen und ihn zu umzingeln. An der Wand waren für solche Fälle Halterungen angebracht, in denen Speere steckten. Normalerweise wäre das für Keirdwyns Expedition bedenklich gewesen, aber in diesem Fall konnte es ihr zum Vorteil gereichen. Wenn es gelang, den Raum zu besetzen, wäre es für Anukyats Männer nahezu unmöglich, sie wieder zu vertreiben.
In die Decke war eine Falltür eingelassen, daneben stand eine Leiter. Kamala sah ein, dass sie in ihrem Vogelkörper die Klappe nicht aufstoßen konnte, also schlüpfte sie durch das Fenster wieder nach draußen und suchte einen Eingang ins nächsthöhere Stockwerk. Auch dort gab es natürliche Fenster, aber sie waren viel schmaler; sie fand keines, das für einen erwachsenen Mann breit genug gewesen wäre. Also kein direkter Zugang.
Sie zwängte sich durch eine der Öffnungen und spähte, aufmerksam auf alle Spuren und Geräusche menschlicher Anwesenheit achtend, in den obersten Raum.
Da stand er!
Bis zu diesem Moment hätte sie sich selbst nicht eingestanden, dass sie daran gezweifelt hatte, ob der sagenhafte Thron tatsächlich hier zu finden wäre. Schließlich hatte ihnen nur eine tausend Jahre alte Weissagung den Weg gewiesen. Doch da stand er tatsächlich, unter einer schwarzen Öltuchplane, auf der sich wiederum der Staub von Jahrhunderten abgesetzt hatte. Seine Form zeichnete sich jedoch deutlich ab. Größer als ein Mann, mit einer Lehne so breit wie die ausgebreiteten Arme eines Kriegers – es war tatsächlich ein Stuhl, und zwar von beachtlichen Ausmaßen. Zu gerne hätte sie die Plane heruntergezogen, um ihn genauer zu betrachten, aber das wäre nicht möglich, ohne den Staub aufzuwirbeln. Und das könnte den Bewohnern der Zitadelle verraten, dass jemand hier gewesen war. Womöglich dachten sie dann auch noch einen Schritt weiter.
Auch hier war der Boden mit Staub bedeckt, und überall lagen altes Laub und getrockneter Vogelkot herum. Anukyat legte offensichtlich keinen großen Wert darauf, dass dieser Raum in Ordnung gehalten wurde. Der Riegel der Falltür war zurückgeschoben, aber sie sah keine Spuren im Staub, und auch sonst wies nichts darauf hin, dass lebende Menschen in jüngerer Zeit hier gewesen wären. Anukyat nützte das Monument wohl in erster Linie als Wachturm und hatte keine besonderen Vorkehrungen zum Schutz seines geheimnisvollen Inhalts getroffen. Wozu auch? Wer den Turm erstürmen wollte, musste zuerst die Zitadelle erobern. Oder etwa nicht?
Noch eine Weile suchte sie nach einer Möglichkeit, einen Blick unter die Plane zu werfen, ohne verräterische Spuren in der Staubschicht zu hinterlassen, nahm aber schließlich davon Abstand, zwängte sich durch ein schmales Fenster, umkreiste das Monument im unteren Bereich und spähte dabei durch Ritzen und Spalten. Die Wendeltreppe, die das Innere beherrschte, war fast überall angenehm breit, vielleicht sogar breit genug für einen Kampf; nur ganz oben, bevor man in den eigentlichen Wachraum gelangte, wurde sie schmaler. Sie fand ein paar natürliche Fenster, die groß genug für ihre Reisegefährten wären, und prägte sich ein, wie sie von außen aussahen. Dann schwang sie sich mit einem letzten Blick
Weitere Kostenlose Bücher