Die Seelenzauberin - 2
Thelas, der an die Nähe des Heiligen Zorns gewöhnt war, hatte entschieden erklärt, dass er das niemals tun würde. Dennoch war die Seherin auf etwas gestoßen. Und seine Seher irrten sich selten.
Die untergehende Sonne , hatte sie gesagt. Im Schatten der kleinsten Schwester.
Also im Westen. Irgendwo in der Nähe des kleinsten der drei Monumente. Wären seine Hüter fähig, den Ursprung dieser Zauberkräfte ausfindig zu machen, wenn er sie dorthin schickte? Wichtiger noch: Konnte er sie von der Zitadelle abziehen, ohne deren Sicherheit zu gefährden? Er murmelte Verwünschungen gegen Thelas vor sich hin, der ihm so viele seiner Männer genommen hatte. Fast kam es ihm vor, als wollten ihn die Götter mit dieser neuen Schwierigkeit verhöhnen. Schutz oder Aufklärung, du musst dich entscheiden , neckten sie ihn. Wohl wissend, dass er nicht mehr genügend Männer für beides hatte.
Diese Region gehört mir , dachte er erbost. Ein finsterer, alles verschlingender Zorn gegen den unbekannten Zauberer erfüllte ihn, der es gewagt hatte, seinem Land so dicht an seiner Zitadelle sein Zeichen aufzudrücken. Es war, als hätte ein herrenloser Hund an seine Mauern gepisst. Er würde es nicht dulden!
Sobald der Tag anbrach, wollte er ein paar Männer ausschicken, um der Angelegenheit nachzugehen – das ließ sich nicht vermeiden –, aber er würde auch einen von Thelas’ Vögeln mit einer Nachricht über diesen empörenden Vorfall an Alkals Königlichen Magister schicken. Wenn der Zauberer darauf nicht prompt – unverzüglich! – antwortete, nun, dann würde er bald feststellen, dass er in dieser Region nicht mehr viel zu sagen hatte.
In einer Zeit, in der die Kannoket und ihre geflügelten Verbündeten aus ihrer langen Verbannung zurückkehrten, wäre das bedenklich für ihn. Sehr bedenklich.
Stille. Mitternacht. Tiefe Dunkelheit. Ein knisterndes Feuerchen in einem Steinkreis. Lautes Schnarchen von einem der schlafenden Hüter.
Gwynofar lag wach und nahm alles in sich auf. Ein letztes Mal Frieden. Morgen würden sie in die verseuchte Zone gelangen, wie Kamala es nannte – und wer wusste schon, wann danach wieder Frieden einkehren würde? Ob überhaupt?
Langsam schloss sie die Augen und wandte sich nach innen. Sie spürte den Blutstrom in ihren Adern, das langsame Pochen ihres Herzens … und weiter unten, zwischen ihren Hüften, ein Flattern, das fast ein Herzschlag war, eine Bewegung, die fast ein Kind war, ein Feuer, das fast eine Seele war.
Sie ließ sich von ihrer Lyr -Gabe leiten und umfing den winzigen Lebensfunken. Ringsum veränderte sich die Welt. Die Finsternis des nächtlichen Waldes verschwand, das Schnauben und Schnarchen ihrer Gefährten verstummte, Bedrängnis, Unsicherheit und Angst verflüchtigten sich.
Gwynofar stand im Sonnenschein und hielt ein Kind in den Armen. Einen wunderschönen Knaben mit blondem Haar, das sich an den Schläfen kräuselte, und hellblauen Augen, die sie an Andovan erinnerten. Der Anblick traf sie ins Herz, auch wenn es nur eine Illusion war. Sie war noch so jung gewesen, als ihr drittes Kind zur Welt kam! Eine Ewigkeit schien seither vergangen. Ein ganzes Leben.
Deine Zeugung war ein Akt der Gewalt , sagte sie in Gedanken zu dem rosigen Säugling, aber das war nicht deine Schuld. Du bist der Sohn eines großen Königs, der Bruder mehrerer Prinzen, und deine Mutter wird dich so innig lieben wie alle, die vor dir kamen. Sogar noch inniger, denn du tröstest sie in ihrer Trauer.
Sorgfältig untersuchte sie das Kind auf Anzeichen irgendeiner Krankheit. Dabei würden Schwächen des Ungeborenen ans Licht gebracht, und sie könnte mit entsprechenden Betreuungsmaßnahmen die erforderlichen Kräfte einschleusen, um sie zu beheben. Das Kind in ihren Armen mochte Illusion sein, aber wenn sie es pflegte, führte sie auch dem echten Kind Heilkräfte zu. So konnte sie auf alle Bedürfnisse ihres Sohnes eingehen, während er sich noch in ihrem Schoß befand. Das war ein Teil der Gabe, die die Götter jeder Lyra geschenkt hatten. Wie sich zeigte, war das Kind trotz der langen Stunden im Sattel und all der anderen Strapazen der Reise gesund, und das hieß, dass mit ihrer Schwangerschaft alles in Ordnung war.
Innig drückte sie das Phantomkind an ihre Brust und schwelgte in seiner Wärme und seinem süßen Duft. Nur zögernd ließ sie die Illusion verklingen. Die Götter allein wussten, ob sie zu solchen Visionen noch fähig wäre, wenn sie erst den Machtbereich des Heiligen Zorns
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