Die Seelenzauberin - 2
auf die Zitadelle wieder in den freien Himmel und flog, nicht nach Osten, sondern nach Westen, um mögliche Beobachter zu täuschen. Später konnte sie im Bogen zu ihrer Gruppe zurückkehren.
Doch zuerst zu ihrem persönlichen Anliegen.
Sie brauchte mehrere Stunden, um ein geeignetes Versuchsobjekt zu finden. Die Tiere in dieser Region waren zumeist klein und scheu, und die Vogelart, die sie sich zum Vorbild gewählt hatte, war für die Körnersuche ausgerüstet, aber nicht für die Jagd. Doch schließlich – im Westen versank die Sonne bereits hinter den Bergen – entdeckte sie einen Hasen, der hektisch nach Futter suchte, ließ sich unweit von ihm auf einem Ast nieder und sah ihm zu.
Die Verwandlung, so hatte Aethanus ihr eingeschärft, war einer der vielschichtigsten und gefährlichsten Zauber überhaupt. Der Körper musste nicht nur in seiner Ausgangs- und seiner Zielgestalt lebensfähig sein, sondern auch in jeder Phase dazwischen. Der kleinste Fehler musste mit dem Tod bezahlt werden. Was nichts anderes bedeutete, als dass ein solcher Zauber in dieser Gegend besonders lebensgefährlich war. Es ging nicht einmal darum, wie der Heilige Zorn sich auswirkte oder ob seine Wirkung jedes Mal die gleiche war; jede Störung, ganz gleich von welcher Seite, konnte die Verwandlung in einer Katastrophe enden lassen.
Sie nahm sich Zeit, um ihrem Konjunkten Athra in ausreichender Menge zu entziehen. Dann nahm sie den Hasen ins Visier und setzte die Macht frei. Überall sonst hätte sich das Tierchen in irgendein anderes Lebewesen verwandelt. Aber hier?
Der Hase wand sich in jähen Krämpfen, und aus seiner Kehle drang ein entsetzlicher Laut, wie ihn kein gewöhnlicher Hase jemals ausgestoßen hätte. Der kleine Körper blähte sich auf, verrenkte sich, die Gliedmaßen bogen sich nach allen Richtungen, und Blut strömte aus Augen, Ohren und Schnauze. Rohes Fleisch verdrängte das weiche Fell, aus Rissen im Unterleib quollen glänzend graue Schlingen. Die Gedärme? Sie war fasziniert, aber irgendwann erinnerte sie sich an die Kosten dieses Experiments und ließ den Zauber voller Bedauern verebben.
Der Hase – oder was davon noch übrig war – war tot.
Gut. Sie war also auch hier nicht gänzlich machtlos.
Zugegeben, der Aufwand war hoch, sie konnte dieses Kunststück nicht allzu oft vollführen. Auf keinen Fall wollte sie sich in dieser verseuchten Gegend in eine Translatio zwingen lassen. War die Verbindung zu ihrem derzeitigen Konjunkten erst durchtrennt, dann reichten ihre Kräfte womöglich nicht mehr aus, um sich einen neuen zu suchen. Kein Magister hatte bisher die Macht des Heiligen Zorns in dieser Weise auf die Probe gestellt, und sie hatte nicht vor, die Erste zu sein.
Aber sie war nicht hilflos. Nicht mehr.
Erfreut über diese Erkenntnis, schwang sie sich abermals in die Lüfte, um zu ihren Morati-Gefährten zurückzukehren, bevor es vollends Nacht wurde.
Die Kammer der Seherin war klein und dunkel und hatte eine schwere Eichentür, die von außen verriegelt werden konnte. Natürlich nur zu ihrem eigenen Schutz. In die Tür war ein Fensterchen eingelassen, durch das man in einen spärlich möblierten Raum schaute; das wichtigste Stück war ein großes Himmelbett genau in der Mitte. Die Frau, die dort schlief, hatte offensichtlich einen Albtraum, denn sie warf sich unruhig hin und her und murmelte vor sich hin.
Anukyat blieb neben der Tür stehen und bedeutete dem Diener, die Tür zu öffnen. Die Zofe, die ihn hergebracht hatte, wartete hinter ihm und zerknüllte nervös mit den Händen ihre Schürze.
In der Kammer war es schwül und feucht, und es roch nach Schweiß und Angst. Aber lüften zu wollen war sinnlos, das wusste Anukyat. Solange er sich in Reichweite des Heiligen Zorns eine begabte Seherin hielt, wäre der Nachschub an Schweiß und Angst unerschöpflich.
Er trat an das Bett und wartete. Die Zofe setzte sich an die andere Seite und tupfte ihrer Herrin die Stirn mit einem Leinentuch ab. »Sie hat etwas von Zauberei gemurmelt«, erzählte sie Anukyat. »Ich wusste nichts damit anzufangen, aber ich bin sofort zu Euch gekommen. Ich dachte, dass Ihr vielleicht …«
Er brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen und lauschte auf die Worte der Seherin. Die sagte nichts mehr, aber das überraschte ihn nicht. Die Vernunft setzte bei übernatürlich Begabten nur unregelmäßig und schubweise ein, und mit zusammenhängenden Aussagen war es ebenso. Bedauerlich, dass man gezwungen war, einen
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