Die Seelenzauberin - 2
verdrießlich. Müdigkeit war ein zwingendes Argument, aber die Pflichten eines Heiligen Hüters hatten Vorrang. In diesem Teil der Welt lag etwas im Argen, und je früher sie herausfanden, was es war, desto besser. Seufzend drückte er seinem Pferd noch einmal die Fersen in die Flanken. Das Tier schnaubte empört. Nicht mehr lange , versprach er ihm stumm. Der Tag ist fast zu Ende. Hab noch ein wenig Geduld.
Schweigend ritten sie durch die länger werdenden Schatten. Nur das Knarren der Sättel und das rhythmische Klirren des Zaumzeugs störten die Stille. Die Pferde wateten durch unzählige Pfützen und scheuchten mit jedem Schritt Frösche auf. Aus unerfindlichen Gründen schienen Amphibien gegen den Heiligen Zorn gefeit zu sein. Noch ein Geheimnis aus alter Zeit, das die Heiligen Hüter nicht hatten lüften können.
Bald wurde das Tal enger. Auf beiden Seiten ragten die Wände immer höher und schroffer empor, und schließlich fiel kein einziger Sonnenstrahl mehr bis auf den Grund.
Höchste Zeit, für heute Schluss zu machen , dachte Rhys. Vielleicht brauchten sie eine Weile, um ein trockenes Plätzchen für ein Nachtlager zu finden. Am besten begann man mit der Suche, bevor es vollends dunkel geworden war.
Sein Blick war auf den Boden gerichtet, als sie um eine Biegung kamen. Plötzlich war ihnen der Weg versperrt. Sie mussten die Pferde jäh zurückreißen, um nicht in das Hindernis hineinzurennen; hinter ihnen wieherten die Packtiere erschrocken, während die Reiter versuchten, sich einen Überblick zu verschaffen.
Quer über dem Bachbett lag ein Baum; an ein Weiterreiten war nicht zu denken. Die dicke, kegelförmige Kiefer mit den langen, dichten Ästen war anscheinend von der Ostwand des Tales herabgefallen. Rhys bemerkte einen Haufen aus Erdreich und Steinen, der wohl vom Hang abgerutscht sein musste. Wahrscheinlich ein Opfer des Frühlingsregens , dachte er. So etwas war in dieser Gegend nicht ungewöhnlich, kam aber fast immer verdammt ungelegen.
Das Hindernis war zu undurchdringlich, als dass man die Pferde hätte hindurchführen können, und zu hoch, um es gefahrlos zu überspringen. Sie mussten den verfluchten Baum aus dem Weg räumen. Rhys schickte sich unter leisen Verwünschungen zum Absitzen an und bedeutete Namanti, es ihm gleichzutun. Hoffentlich ließ sich die Sache beheben, bevor die Nacht hereinbrach.
Doch als er das Bein über den Sattel schwingen wollte, hielt er inne.
Etwas stimmte nicht. Er konnte nicht genau sagen, was es war, doch es … passte einfach nicht zusammen.
Er schaute zu Namanti hinüber. Auch sie war nicht abgestiegen, und ihrem Gesichtsausdruck nach war auch ihr irgendetwas nicht geheuer. Es war ein eigenartiges Gefühl, so als wäre das Urteilsvermögen, das er brauchte, um die Situation zu klären, zwar vorhanden, er könne aber nicht darauf zugreifen. So etwas hatte er bisher noch nie erlebt.
Dann zischte Namanti leise. Er folgte ihrem Blick zu den Wurzeln des Baumes. Er begriff nicht sofort, was er da sah, doch dann gefror ihm förmlich das Blut in den Adern.
Die Wurzeln waren nicht aus dem Boden gerissen worden.
Jemand hatte sie abgeschnitten .
Bevor er noch einmal Luft holen konnte, traf ihn ein Armbrustpfeil so heftig an der Schulter, dass er fast aus dem Sattel geworfen wurde. Namantis Skandir-Pferd wieherte schrill, ein zweiter Pfeil war ihm in den Leib gefahren. Rhys sah, wie sie es mit einer Hand zu bändigen versuchte, während sie mit der anderen hinter sich nach dem kleinen Schild tastete, der an ihrer Satteltasche hing. Heiß schoss ihm der Schmerz durch den Arm, als er sein eigenes Tier herumriss. Der nächste Pfeil verfehlte ihn um wenige Zentimeter, zwei weitere trafen nur seine ledernen Satteltaschen. Die Schützen waren genau über ihnen, und das war denkbar ungünstig. Der Baum versperrte ihnen den Weg nach vorne, und mit Ausnahme dieses Baums, der für die Pfeile kein Hindernis darstellte, war nirgendwo Deckung in Sicht. Sie konnten nur in die Richtung flüchten, aus der sie gekommen waren, doch bei einem Hinterhalt, der diesen Namen verdiente, hatte man ohne jeden Zweifel auch Vorkehrungen für einen solchen Rückzug getroffen.
Sie saßen in der Falle.
Eines der Packpferde wieherte laut und ging zu Boden; Rhys konnte sein eigenes Tier gerade noch so weit abdrängen, dass er nicht mitgerissen wurde. Ohne den tobenden Schmerz in seinem Arm zu beachten, zog er Favias’ Brief heraus und hielt ihn in die Höhe. »Wir sind Heilige Hüter!«,
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